Offenes Ohr für InhaftierteWürfelspiele hinter Gittern
Alle drei Wochen bringt Trudi Schläppi ein Spiel in das Gefängnis Hindelbank. Als freiwillige Mitarbeiterin unterstützt sie seit drei Jahren eine Insassin, die nie Besuch erhält.

Trudi Schläppi bringt die Prozedur hinter sich: Sie zieht den Gurt aus, tastet ihre Hosentaschen ab, läuft durch den Metalldetektor, der sofort piepst. Der Sicherheitsmann weiss, dass Trudi Schläppi nichts in die Justizvollzugsanstalt (JVA) Hindelbank schmuggelt, der Sicherheitsmann weiss, dass Trudi Schläppi ein künstliches Hüftgelenk hat. Dutzende Male war sie schon hier. Als freiwillige Mitarbeiterin im Amt für Justizvollzug trifft sie seit mehr als drei Jahren eine Insassin, die sonst von niemandem besucht wird.
In zwei Plastikbecherchen blubbert die Kohlensäure des Mineralwassers, hinter Trudi Schläppi surrt der Getränkeautomat, bis eine Frauenstimme die einförmige Geräuschkulisse zerschneidet: «Hallo Frau Schläppi!» Die Begrüssung ist kurz, freundlich und wird gefolgt von einem ersten Ballast, den die Insassin abwerfen will: Sie ärgert sich. Worüber sie sich erbost, will sie nicht in der Zeitung lesen. Vielleicht fürchtet sie die Konsequenzen. Zu eng ist das Leben im Gefängnis.
Trudi Schläppi (68) aus Uebeschi ist für die Insassin eine Konstante. Im Mai 2018 betrat sie, erst seit kurzem pensioniert, als freiwillige Mitarbeiterin den Besucherraum in Hindelbank und traf auf eine Insassin, deren Gemüt von der Einsamkeit Richtung Depression eilte. Über fünf Jahre sitzt die Frau ihre Strafe in Hindelbank schon ab, sie hat weder Familie noch Freunde in der Schweiz, auf ihrer Besucherliste ist kein Name eingeschrieben – nur Trudi Schläppi.
Eine formelle Freundschaft
Am Anfang redete die Insassin bei jedem Treffen über ihre Tat, das war das einzige und wichtigste Thema. «Vielleicht wollte sie einfach alles loswerden», sagt Trudi Schläppi im Gespräch bei einer Tasse Kaffee. «Denn dort drin können sie nicht mit allen über solche Sachen reden.» Vielleicht wollte die Insassin vor Trudi Schläppi auch ein Bild konstruieren, das sich fernab der richterlichen Wahrheit befindet. Die Insassin behauptet, dass sie die Tat nicht begangen hat.

In den letzten Jahren hat sich zwischen den beiden Frauen eine Beziehung entwickelt, die vielleicht als formelle Freundschaft bezeichnet werden kann. Die Treffen sind getaktet und gemassregelt. Die Besuche werden sieben Tage im Voraus angemeldet, dauern 120 Minuten und: Biskuits dürfen nicht verpackt sein, sondern müssen auf einem Teller serviert werden.
Trotz dieser Formalitäten entstehen vertraute Momente. In Gesprächen, wenn die Insassin davon erzählt, wie das Gefängnis sie verändert hat, wie die Entscheidungen der Beamten ihr schlaflose Nächte bescheren oder wie die anderen Insassinnen um Macht innerhalb der JVA kämpfen. In diesen Momenten ist Trudi Schläppi eine Freundin, die zuhört.
Bei gemeinsamen Aktivitäten wird Trudi Schläppi zur Freundin, die genau diese Themen vergessen lässt. Wenn sie spielen, bis die Würfel glühen, sie den Jenga-Turm Stein um Stein in die Höhe wachsen lassen, immer mit der Hoffnung, dass die Gegnerin den Turm umstürzt, dann können sie lachen, dann schmelzen die schlechten Gedanken an das Gefängnisleben davon wie Schnee in der Frühlingssonne. Doch die Gewissheit bleibt: Der nächste Schnee wird fallen, die Insassin bedrücken und ihr Angst bereiten. Und Trudi Schläppi wird wieder da sein, als Freundin, die zuhört.
Was kommt nach der Haft?
In diesen Monaten, rund ein Jahr vor der Haftentlassung, redet Trudi Schläppi mit der Insassin darüber, was nach Verbüssen der Strafe folgt. Entgegen der Erwartung, dass diese Gespräche gespickt sind mit Vorfreude auf die Freiheit, die der Insassin zurückgegeben wird, rumort es in ihrem Kopf, die Gedanken kreisen endlos, viele Fragen, wenig Antworten. Sie fragt sich zum Beispiel: Wie finde ich eine Wohnung? Bekomme ich einen Job? Kann ich nach dem Leben im Strafvollzug, das von Vollzugsverantwortlichen geplant wurde, in der Freiheit eine Ordnung finden, oder verliere ich mich im Chaos? Aus all diesen offenen Fragen resultiert ein Gefühl, das die Inhaftierte so umschreibt: «Manchmal fühle ich mich schwer wie ein Stein.»
Diese Unsicherheiten bestätigten sich auch bei den ersten Haftausgängen, die sie mit Trudi Schläppi in Bern verbrachte. «Schon ein Zugbillett am Automaten zu lösen, war eine Herausforderung», sagt Schläppi. In Bern angekommen, habe sie sich immer wieder verlaufen, obwohl sie die Stadt kennt. Aber Trudi Schläppi half ihr, sich zurechtzufinden. Die Inhaftierte shoppte Kleinigkeiten, ein Haarshampoo und Nagellack, der kleine, in der JVA nicht vorhandene Luxus. Was bei keinem Haftausgang fehlen durfte: ein Kaffee in der Kramgasse, dazu ein Gipfeli.
Trudi Schläppi hat für sich entschieden: Am Tag der Haftentlassung wird die formelle Freundschaft beendet. Ihr freiwilliger Dienst ist dann getan, und sie hofft, dass ihre moralische Hilfe der Insassin in der Freiheit eine Stütze sein wird. Sie hat sich für die freiwillige Mitarbeit entschieden, da sie als Pensionärin ihre Zeit sinnvoll einsetzen wollte. «Ich wollte jemandem helfen, dem es nicht so gut geht. Jemanden auf seinem Weg begleiten. Und ich muss sagen: Ich bin froh, mache ich das.»
Was noch wichtiger ist: Die Insassin sagt, dass sie diese Art von Unterstützung braucht. In ihren ehrlichen Worten schwingen Einsamkeit und Frust mit: «Ich habe keine Familie hier, ich bin allein in der Schweiz. Es tut gut, mit jemandem reden zu können, ich brauche diese Unterstützung. Manchmal vermisse ich Frau Schläppi.»
Bis zum Tag der Entlassung gilt das Abkommen für alle weiteren Haftbesuche: Trudi Schläppi bringt die Getränke, die Insassin serviert die Biskuits.
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