Corona-Apokalypse in Rumänien«Wir haben sehr viele Tote, immer noch»
In kaum einem EU-Land gibt es so viele Ungeimpfte und Covid-Opfer. In überlasteten Kliniken geht es chaotisch zu. Ärzte und Pflegekräfte kämpfen gegen politische Inkompetenz, Ignoranz und räumliche Enge.

Die Morga, die Leichenhalle, liegt – wie zur Mahnung mit grossen Lettern beschriftet – gleich hinter der Zufahrt zum Gelände des Marius-Nasta-Instituts für Lungenkrankheiten in Bukarest. Wer auf die Covid-Station eingeliefert wird, wird in einer grossen Rechtskurve zuerst an dem grossen Container vorbeigefahren. Ein paar leere Bahren stehen aufgereiht davor. Jemand schliesst die Tür der Morga von innen. Endstation.
«Wir haben sehr viele Tote, immer noch», sagt Dragos Zaharia erschöpft, dabei ist er doch wieder ein wenig optimistischer als vor wenigen Wochen. Das grosse Sterben in Rumänien, Folge der zweitniedrigsten Impfquote in der EU, hat sich zumindest verlangsamt. Es gab Tage im Herbst, da erkrankten 17’000 Menschen pro Tag an Corona, bei knapp 20 Millionen Einwohnern, und fast 600 starben. Jeden Tag. Schlagzeilen über die «Apokalypse» in Rumänien und die «dramatische Lage im Land der Impfskeptiker» machten die Runde, und sie waren alle wahr. Lungenfacharzt Zaharia kann das bestätigen. Jetzt ist die Zahl der Neuinfektionen abgesackt auf einen Mittelwert von 5000.
Grund für das Absinken, sagt der Pneumologe, sei zum einen der Grad der Durchseuchung, eleganter: die Herdenimmunität. Die Impfquote liegt bei nur 38 Prozent, immerhin steigt sie, wenngleich langsam. Angesichts der rasant zunehmenden Zahlen und der Untätigkeit der durch eine politische Dauerkrise paralysierten Regierung hatte Staatspräsident Klaus Johannis Anfang November kurzerhand zweiwöchige Schulferien und Maskenzwang im Freien dekretiert. Restaurants und Gastronomie müssen um 21 Uhr schliessen. Auch der grüne Pass kommt, sehr langsam, ins Laufen.
Mediziner und Schwestern baden die Schlampigkeit und die Inkompetenz der Behörden aus. Zaharia leitet eine Abteilung im Lungenkrankenhaus im Süden Bukarests. Derzeit geht es in seinem Job nicht um Tuberkulose oder Bronchitis, über die der Namensgeber des Instituts, der berühmte Arzt und Regimegegner Marius Nasta, vor vielen Jahrzehnten geforscht hatte. Es geht um Covid, immer nur um Covid. 80 Betten hat seine Station eigentlich; zeitweilig wurde sie auf 110 aufgestockt. Und es ist immer noch zu eng. Das Haus wurde frisch renoviert, immerhin, auch die technische Ausstattung ist auf einem relativ guten Stand. In Rumänien war bereits in zehn Kliniken Feuer ausgebrochen, weil Sauerstofftanks explodierten oder es keine Brandschutzzulassung gab.
Viele kommen zu spät, haben nie einen Arzt gesehen, weil sie Ärzten nicht vertrauen oder kein Schmiergeld aufbringen können.
Man kann von Zaharia nicht viel erkennen; er hat sich gegen die Kälte im Vorraum zur Covid-Station über weisse Jeans und weisses T-Shirt eine Art Bademantel gezogen, im Gesicht die Maske, auf dem Kopf statt eines Haarnetzes ein Gummihut mit aufgedruckten EKG-Linien; ein wenig Spass muss sein in einer Routine, die vor allem von Erschöpfung und Überforderung geprägt ist: Patienten in einem zugigen Flur untersuchen, mindestens 90 Prozent sind ungeimpft, viele kommen zu spät, haben nie einen Arzt gesehen, weil sie Ärzten nicht vertrauen oder kein Schmiergeld aufbringen können. Sie fahren lieber gleich in die Klinik. Die meisten werden in eines der Sechsbettzimmer gezwängt, weil sie es vielleicht allein schaffen können; ein Teil geht gleich auf die Intensivstation.

Eine Intensivstation ist voll belegt; die Betten stehen so eng, dass Schwestern und Ärzte sich aneinander vorbeizwängen müssen. Intubation, Körperpflege, das Drehen und Wenden der Patienten – alles findet vor allen statt. Eine zweite Intensivstation hatte Klinikmanagerin Beatrice Mahler auf dem Höhepunkt der Krise dazugemietet: Ein brandroter Bus mit technisch voll ausgestatteten Betten und Geräten steht vor der Tür. Vor ein paar Tagen wurde er wieder stillgelegt. Gott sei Dank, vorerst wird er nicht mehr gebraucht.
Wie in der Transsibirischen Eisenbahn
Für die etwa 100 Betten im Covid-Trakt gibt es drei Schwestern am Tag, zwei in der Nacht. Der Rest des Personals besteht aus Freiwilligen, vor allem aus Medizinstudenten. Krankenschwestern und Ärzte aus Rumänien sind in Rumänien rar, viele arbeiten lieber in Deutschland oder Grossbritannien. Dreimal am Tag ein Rollwagen mit Essen, Pflegekräfte, die Betten frisch beziehen – das ist hier unbekannter Luxus. Wer nicht auf der Intensivstation liegt, muss fit genug sein, sich im Zweifel um sich selbst zu kümmern. Überall sind private Decken, Vorräte, Reisetaschen, Obst, Strickzeug, Mäntel gestapelt, die Krankenzimmer gleichen Abteilen in der Transsibirischen Eisenbahn. Wenn da nicht die Sauerstoffversorgung wäre, auf die fast jeder, fast jede hier angewiesen ist.

Zaharia hat mittlerweile an einen jungen Assistenzarzt übergeben. Stefan Lece demonstriert mit einer gewissen Befriedigung eine Konstruktion, die nach Marke Eigenbau aussieht: Damit könnten Patienten, deren Sauerstoffsättigung so schlecht ist, dass sie auf Intensiv müssten, trotzdem auf der Station versorgt werden, sagt er. An einem Gerät, das sonst zwei nebeneinanderliegende Patienten über Nasenkatheter mit Sauerstoff versorgt, hängt eine Patientin mit zwei Schläuchen: Über dem Nasenkatheter trägt sie noch eine Sauerstoffmaske. Doppelt hält besser.
Die Dame mit Katheter und Maske heisst Lumiata Volohowski. Sie ist nicht geimpft; ihr Arzt habe ihr abgeraten, sagt sie, wegen einer Allergie gegen Antibiotika. Ob sie das bereut? «Ach», sagt sie, «man hört so viel.» Halbseidene Fernsehstars, populistische Politiker, Influencer im Netz – Rumänien ist voll von Verschwörungstheorien und Impfgegnern, und die orthodoxe Kirche in dem nach wie vor tiefreligiösen Land tut das Ihre dazu. Priester verweisen auf Gottes Beistand, wer braucht ein Vakzin? Volohowski liegt bereits seit vier Wochen im Spital. Nach Hause könnte sie nicht, selbst wenn ihr Zustand sich weiter bessern würde: Sie leidet an Muskelatrophie durch das lange Liegen. Physiotherapie gibt es in der Klinik nicht, nun kann sie kaum noch laufen. Wer sollte sie daheim, wo niemand ist ausser einer Katze, versorgen? Volohowski schnauft ein wenig. Und Assistenzarzt Lece zuckt ratlos die Achseln.
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