Tierschützer gehen bis an die Schmerzgrenze
Ein Verbot für Tierversuche, Massentierhaltung und Quälprodukte: Tierschützer lancieren eine grosse politische Offensive. Die Anliegen sind umstritten – selbst im eigenen Lager.

Ein traurig dreinblickender Affe, eine aufrecht gehende Ratte oder ein Schwein mit Rüssel und menschlichen Augen: Mehr als ein Dutzend solch verstörender Bilder ist in den letzten Monaten auch in dieser Zeitung erschienen. «Irrweg Tierversuch» stand jeweils in grossen Buchstaben daneben. Die ganzseitigen Inserate hat der Verein zur Abschaffung der Tierversuche geschaltet. Rund eine Million Franken hat er dafür ausgegeben, wie Präsident Christopher Anderegg sagt.
Der Mediziner und Biologe führte einst selbst Experimente mit Tieren durch. Heute will er aufzeigen, «dass Tierversuche keinen Sinn machen, weil Mensch und Tier zu unterschiedlich auf Arzneimittel und Krankheiten reagieren». Stattdessen müssten auf den Menschen bezogene Forschungsmethoden eingesetzt werden.
Der Zeitpunkt der Kampagne ist kein Zufall: Sie soll der Volksinitiative für ein Verbot von Tier- und Menschenversuchen den Weg ebnen. Ein Komitee aus St. Galler Tierschützern hat bislang rund 11'000 der erforderlichen 100'000 Unterschriften gesammelt; die Frist läuft noch bis April 2019. Unterstützt wird es von 90 Privatpersonen, Organisationen und Firmen wie etwa der Trybol AG von Ständerat Thomas Minder (parteilos).
Das Anliegen gilt selbst in Tierschutzkreisen als radikal, weil es zum einen Menschenversuche einschliesst und zum anderen den Import, Export und Handel von Produkten aus Branchen verbieten will, die Tierversuche durchführen. Und obwohl die Bevölkerung gemäss Umfragen mehr Mittel für alternative Testmethoden wünscht, hat sie in der Vergangenheit an der Urne ein Tierversuchsverbot mehrfach abgelehnt.
Auch im Parlament hat die Initiative bis jetzt kaum Fürsprecher – selbst in linken Kreisen, die sich traditionell stark für den Tierschutz einsetzen. Nationalrätin Maya Graf (Grüne) hält das Anliegen für «zu radikal». Heute fehle es oft an einer konsequenten Umsetzung der Tierschutzgesetze und der Verfassungsgrundlagen; die in der Bundesverfassung verankerte «Würde der Kreatur» etwa würde in der Konsequenz belastende Primatenversuche nicht erlauben, so Graf. «Da nützt eine neue Initiative nicht viel.»
SP-Spitze will Versuchsverbot
Auch SP-Nationalrat Matthias Aebischer geht die Initiative «klar zu weit». Einem sinnvollen Gegenvorschlag stehe er aber positiv gegenüber. Die Geschäftsleitung der SP ist derselben Ansicht. Sie will hochbelastende Tierversuche (Schweregrad 3) verbieten. Ebenso jene, die der Aus- und Weiterbildung dienen, ohne einen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Gering- und mittelbelastende Tierversuche müssten unter «optimalen Bedingungen» mit entsprechender Überwachung durchgeführt werden, damit sich die Belastung in Grenzen halte. Die SP-Geschäftsleitung fordert zudem mehr Mittel für Alternativmethoden. Nächste Woche entscheidet die SP-Delegiertenversammlung über eine Unterstützung der Initiative.

Die Idee eines Gegenvorschlags halten auch Exponenten der GLP für prüfenswert, so etwa Nationalrätin Isabelle Chevalley. Aus allen anderen Parteien kommen jedoch ablehnende Signale. «Eine solch radikale Initiative ist nicht zielführend und ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung zu bringen», sagt FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen.
Auf erbitterten Widerstand stösst das Ansinnen in der Pharmaindustrie. «Die Initiative würde die Entwicklung neuer Medikamente in der Schweiz verunmöglichen und den Forschungs- und Innovationsstandort Schweiz de facto stilllegen», warnt der Branchenverband Interpharma. Auch widerspreche sie den WTO-Abkommen. Zudem führe die Initiative dazu, dass Alltagsprodukte wie Tiefkühlpizzen oder Dosensuppen nicht mehr importiert respektive angeboten werden dürften, da auch Lebensmittelzusatz- sowie Konservierungsstoffe mit Tierversuchen getestet würden.
Auch die Hochschulen sind alarmiert. Die Initiative bewirke eine «extreme Einschränkung» in der Behandlung von Patienten, deren Krankheiten künftig durch neue Medikamente heilbar wären, sagt zum Beispiel Christian Leumann, Rektor der Universität Bern.
Noch 2000 statt 18'000 Hühner
Die Initiative ist nur ein Beispiel für eine breit angelegte Offensive der Schweizer Tierschützer. Die Aufklärung mit Broschüren und Filmen reicht ihnen nicht mehr. Neben mehreren Vorstössen in den Städten wollen sie auch vermehrt auf die nationale Gesetzgebung Einfluss nehmen; dies bestätigt Michael Gehrken, der für Alliance Animal Suisse in Bundesbern lobbyiert.
Bereits diesen Frühling werden zwei weitere Volksinitiativen lanciert. Die eine fordert ein Importverbot für Qualprodukte wie Stopfleber oder Pelz – und will damit eine Forderung vors Volk bringen, die unlängst im Parlament gescheitert ist. Innerhalb von vier Wochen hätten sich 45 Organisationen für das Unterstützungskomitee gefunden, so Gehrken.
Die andere Initiative will die Massentierhaltung in der Schweiz verbieten. Sie entstammt der Feder der Tierrechtsorganisation Sentience Politics. Gemäss Initiativtext, der dieser Zeitung vorliegt, soll die Würde des Tieres in der Landwirtschaft geschützt werden. Dazu soll «das Recht, nicht in Massentierhaltung zu leben», in die Verfassung geschrieben werden. Eine Massentierhaltung liegt demnach vor, wenn das Tierwohl aus Wirtschaftlichkeitsgründen verletzt wird; wenn also Tiere in grossen Gruppen auf engem Raum gehalten werden und ihre «den wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechenden Grundbedürfnisse nicht berücksichtigt werden». Diese Vorschriften sollen auch für den Import von Tierprodukten gelten.
Die Initiative quantifiziert die Massentierhaltung nicht. Doch Sentience Politics orientiert sich an den Richtwerten von Biosuisse und KAG-Freiland, wie Co-Präsidentin Meret Schneider sagt. Das würde etwa für Hühner bedeuten: Statt wie heute bis zu 18 000 Legehennen pro Hof wären nur noch 2000 Tiere erlaubt. Damit würden die heutigen Bio-Vorgaben zum allgemeinen Standard.
Dissens wegen Strategie
Das Volksbegehren polarisiert bereits stark. Der Schweizerische Bauernverband (SBV) hält es für unnötig. Die Schweizer Tierschutzbestimmungen gehörten zu den strengsten überhaupt, sagt Präsident und CVP-Nationalrat Markus Ritter. Höchstbestände würden eine industrielle Massentierhaltung verhindern. Bei den Hühnern etwa seien maximal 18'000 erwachsene Tiere erlaubt. In Deutschland dagegen gebe es Betriebe mit 600'000 Hühnern im gleichen Stall. Ritter warnt: Die einheimische Produktion werde sich bei einer Reduktion der Höchstbestände markant verteuern. «Weil nicht alle Konsumenten bereit sind, mehr zu bezahlen, würde die Produktion zurückgehen und die Differenz mit Mehrimporten – aus ganz anderen Haltungsbedingungen – gedeckt.» Die Übergangsfrist von 25 Jahren, welche die Initiative für die Umstellung vorsieht, löst das Problem laut Ritter nicht, sondern verschiebt es bloss.
In Bauernkreisen hofft man, dass die Initianten bereits im Sammelstadium scheitern. Doch diese zeigen sich zuversichtlich. Wie Gehrken spricht auch Schneider von rascher und breiter Unterstützung und zeigt sich «sehr zufrieden» mit dem Fundraising. «Es ist eine Aufbruchstimmung zu spüren. Tierschützer vernetzen sich und koordinieren ihre Projekte.» Die Organisationen könnten dabei auf das Geld idealistischer Einzelspender und auf das Engagement einer breiten Basis zählen.
Die Offensive weckt in Tierschutzkreisen aber auch Kritik. Grund ist die von den Grünen lancierte Fair-Food-Initiative, die wohl im Herbst zur Abstimmung kommt und Lebensmittel aus einer umwelt- und tierfreundlichen Landwirtschaft fördern will – auch bei Importen. Der Schweizer Tierschutz hat vorgeschlagen, alle anderen Initiativen bis zur Abstimmung zurückzustellen, um mehr Schlagkraft zu gewinnen. Vergebens. Hansuli Huber, Geschäftsführer des Schweizer Tierschutzes, zeigt sich darüber «sehr enttäuscht». Auch Grünen-Nationalrätin Graf beklagt, dass so die Kräfte «leider verzettelt» würden.
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