Der Letzte seiner Art
Hermann Hess war kein typischer Nationalrat. Genau deshalb wird man ihn vermissen. Eine Kolumne von Andreas Kunz.
Als er von seiner Lokalzeitung, der «Thurgauer Zeitung», letzte Woche gefragt wurde, was von ihm in Bern in Erinnerung bleiben solle, antwortete Hermann Hess: «Da bin ich sehr anspruchslos.» Was hätte er auch anderes sagen sollen – nach nur zwei Jahren im Nationalrat, in denen er vor allem dafür bekannt wurde, keinen einzigen Vorstoss eingereicht zu haben und kein einziges Mal ans Rednerpult getreten zu sein.
Und trotzdem zeigte genau diese Antwort, wie Hermann Hess nach seinem Rücktritt in Erinnerung bleiben wird: als unprätentiöser Volksvertreter, der gar nicht unbedingt gewählt werden wollte. Der als Unternehmer finanziell völlig unabhängig politisierte und auch keine Branche, keinen Verband und keine Organisation vertrat. Und der sich schon gar nicht darum kümmerte, was die anderen – auch nicht die Medien – von ihm dachten, wenn er bei einem Parlamentarier-Ranking mal wieder auf den letzten Plätzen landete oder er mit seinem Bentley Cabrio, stets adrett gekleidet mit Pochettli und Manschettenknöpfen, durch sein Heimatstädtchen Amriswil kurvte.
«Ohnehin sei nicht das Reden das Wichtigste, sondern das Nachdenken und Abstimmen»
Bereits nach seiner Wahl hatte Hess gesagt, er habe sich nur auf die Liste setzen lassen, um der FDP Stimmen zu bringen. Als das Telefon klingelte und er hörte, dass er vorne liege, habe er gerade den Haushalt gemacht und den Abfalleimer geputzt. Am Abend hatte Hess einen amtierenden Regierungsrat ausgestochen sowie die Präsidenten der thurgauischen Wirtschaftsverbände. Eine Überraschung war die Wahl allerdings nur für ihn selbst: Der ausgebildete Pianist, der mit Immobilieninvestments zum schwerreichen Patron aufstieg und sich für «Musik, Literatur, Geschichte, Kunst, Politik und Natur» interessierte, erfüllte für den Nationalrat ein Anforderungsprofil, das bei den Wählern äusserst beliebt ist – in Bern aber leider ebenso vom Aussterben bedroht.
Im stets lauten und immer aktivistischeren Politbetrieb machte einer wie Hess erst Schlagzeilen, als herauskam, dass er noch gar nie etwas gefordert hatte. Entschuldigen mochte er sich dafür nicht, im Gegenteil: «Ich habe Skrupel, die Verwaltung und das Parlament sinnlos zu beschäftigen», sagte er. Da er verantwortungsvoll mit dem Geld der Steuerzahler umgehen wolle, habe er es bevorzugt, bei der Verwaltung direkt nachzufragen. Es waren Töne, die man schon lange nicht mehr gehört hatte aus einem Parlament, das zunehmend aus Berufspolitikern und Selbstdarstellern besteht – die pro Jahr rund 2000 Vorstösse einreichen, von denen nur jeder fünfte erfolgreich ist. Und der ganze Rest hauptsächlich der eigenen Profilierung dient sowie Kosten in Millionenhöhe verursacht.
Ohnehin sei nicht das Reden das Wichtigste, sondern das Nachdenken und Abstimmen, sagte Hess. Tatsächlich sass er oft im Saal und verfolgte die Debatten – während seine Kollegen wichtig durch die Wandelhalle schwirrten, Instruktionen entgegennahmen oder Zeitung lasen. Hess widerstrebten vor allem die Etatisten: «Es ist leider ein breites Bedürfnis im Parlament, alles und jedes durch Regulierung in den Griff zu bekommen und für jede Eventualität eine Regel zu finden», sagte er. Dabei solle sich die Politik eher zurückhalten. «Dynamik und Innovation entstehen in der Gesellschaft und in der Wirtschaft, nicht in der Politik.»
Er wolle sich künftig vermehrt um seine noch schulpflichtigen Kinder kümmern und einer jüngeren Kraft Platz machen, sagte der 65-Jährige der Lokalzeitung. Zudem finde er es «nicht unbedingt angebracht, dass Rentner wie ich über die Zukunft der Jungen entscheiden». Wahrscheinlich flunkerte Hess dabei zum ersten Mal wie ein abgebrühter Berufspolitiker. Viel eher ist zu befürchten, dass sich der freisinnige Gentleman alter Schule in Bern schlicht am falschen Ort wähnte.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch