Psychotherapie in der GrundversicherungPatienten müssen wegen Lohnstreit um Therapie bangen
Ab Juli sollten nichtärztliche Psychotherapeuten direkt mit den Kassen abrechnen können. Doch die Versicherer halten die Lohnforderungen der Psychologinnen und Psychologen für überrissen.

Tausende von Menschen mit psychischen Erkrankungen warten auf eine ambulante Behandlung. Sie finden keinen bezahlbaren Therapieplatz, weil es zu wenig zur Grundversicherung zugelassene Therapeuten gibt. Besonders rar sind die Angebote für Kinder und Jugendliche. Für Entlastung sollen nun Psychologinnen und Psychologen mit anerkannter Therapieausbildung sorgen. Der Bundesrat hat sie ab Juli zur Grundversicherung zugelassen, sofern die Behandlung auf ärztliche Anordnung (Anordnungsmodell) erfolgt.
Doch ob die Patientinnen und Patienten so bald einen Therapieplatz finden, ist ungewiss. Denn fünf Wochen vor dem Start des neuen Abrechnungsmodells wissen die Psychologen noch nicht, ob und wie viel sie nun mit den Kassen tatsächlich abrechnen können. Der Verband Santésuisse, der rund die Hälfte der Versicherten vertritt, hat im April die Verhandlungen platzen lassen, weil er die Tarifforderungen der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) für überrissen hält.
«Statt der dringend benötigten zusätzlichen Therapieangebote für die Patientinnen und Patienten, die nur eine Grundversicherung haben, droht nun ein Chaos durch einen vertragslosen Zustand», sagt Yvik Adler, Co-Präsidentin der FSP. Die FSP verlangt, dass die Therapieleistungen der Psychologinnen und Psychologen gleich hoch entschädigt werden wie jene der ärztlichen Therapeuten, der Psychiater.
Santésuisse: 135 Franken pro Stunde sind fair
Santésuisse will hingegen für nichtärztliche Psychotherapie weiterhin nur so viel vergüten, wie bisher aus der Grundversicherung bezahlt wurde. Bisher konnten die nichtärztlichen Therapien dann über die obligatorische Versicherung abgerechnet werden, wenn die Psychologen im sogenannten Delegationsmodell mit einem Psychiater oder einer Psychiaterin zusammenarbeiteten. Es gebe keinen Grund, den Psychologinnen und Psychologen mehr Geld zu zahlen als bisher, weil sie ja die gleichen Leistungen erbrächten, sagt Santésuisse-Sprecher Matthias Müller. Ein Stundenansatz von, je nach Kanton, rund 135 Franken sei auch im Vergleich mit anderen Berufsgruppen eine faire Abgeltung. Damit bleibe den Psychologen künftig mehr Geld als bisher, weil sie die Vergütung direkt erhielten und den delegierenden Psychiatern nichts mehr abliefern müssten.
Für FSP-Präsidentin Adler ist das Angebot von Santésuisse inakzeptabel. Die selbstständige Praxistätigkeit sei nicht vergleichbar mit dem bisherigen Delegationsmodell, das einem Angestelltenverhältnis gleichkam. Mit der Entschädigung müssten die Psychotherapeutinnen und -therapeuten auch ihre Sozialleistungen, allenfalls eine Praxisassistenz und Praxisräume finanzieren. Für die selbstständige Arbeit brauche es einen Tarif, der auch Notfall- oder Wegentschädigungen enthalte und der die therapeutische Arbeit gerecht abgelte, sagt Adler. Wie die Psychiater müssten auch die nichtärztlichen Therapeuten zusätzlich zum Studium eine vier- bis sechsjährige Fachausbildung und mehrere Jahre Praxis vorweisen, um mit den Kassen abrechnen zu können. Psychiater erhalten von den Kassen je nach Kanton einen Stundenlohn bis zu 190 Franken.
Mit einem Teil der Kassen, die dem Verband Curafutura angeschlossen sind, laufen die Verhandlungen hingegen besser. So hat sich die FSP mit Curafutura auf eine Tarifstruktur geeinigt. Über die Höhe der Abgeltung wird aber noch verhandelt. Ob es zu einem Vertragsabschluss komme, werde sich in den nächsten Tagen zeigen, sagt Adler. Dennoch drohe eine Zweiklassengesellschaft. Denn wegen des Verhandlungsabbruchs von Santésuisse sei die Verunsicherung gross, und manche Therapeutinnen und Therapeuten erwägten, auch künftig nur Privatversicherte und Selbstzahler zu behandeln. Damit werde die Versorgungslücke bei der Psychotherapie weiterhin bestehen bleiben.
Bundesrat rechnet mit 170 Millionen Franken Mehrkosten
Zurzeit liegt der Ball bei den Kantonen. Wie Santésuisse wird auch die FSP bei den Kantonen beantragen, einen provisorischen Tarif festzusetzen. Falls die Kantone sich allerdings, wie von Santésuisse gefordert, am bisherigen Tarif orientierten, lohne sich für die Therapeuten der Wechsel ins Anordnungsmodell nicht, sagt Adler.
Müller verweist hingegen darauf, dass Santésuisse den Modellwechsel akzeptiert habe, um die Versorgung zu sichern. Es sei aber nie von höheren Vergütungen die Rede gewesen. Die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten hätten nun massiv mehr verlangt, was zu grossen Mehrkosten zulasten der Versicherten führen würde.
Der Bundesrat geht davon aus, dass künftig durch die obligatorische Krankenkasse zusätzlich Psychotherapien im Umfang von rund 100 Millionen Franken übernommen werden, die heute privat bezahlt werden. Langfristig rechnet der Bundesrat mit jährlichen Mehrkosten von rund 170 Millionen Franken. Die bisher von der Grundversicherung getragenen Kosten für Psychotherapie beliefen sich laut Santésuisse 2018 auf rund 420 Millionen und dürften mittlerweile gegen 500 Millionen Franken betragen.
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