Nach Veto des Bundes«Unsäglich», «nicht nachvollziehbar», «zum Schämen»
Die EU hat schon Hunderte verletzte Zivilisten und Militärs aus der Ukraine evakuiert, auch mithilfe von Drittstaaten. Die Schweiz steht abseits – die Reaktionen sind deutlich.

Die Reaktionen auf das Veto des Bundes, keine Verletzten aus der Ukraine aufzunehmen, sind deutlich: Als «wirklich nicht nachvollziehbar» bezeichnete die Luzerner Mitte-Nationalrätin Ida Glanzmann, Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission, auf Twitter das Verhalten der Schweiz. Immerhin habe das IKRK seinen Sitz in der Schweiz, «und wir galten doch immer als offener Staat bei humanitärer Hilfe». Luca Strebel, Vize-Generalsekretär der Mitte, schreibt: «Es ist zum Schämen.»
Diese Zeitung hat am Montag zuerst über das Veto des Bundes berichtet, auf Anfrage einer Suborganisation der Nato hin beim Transfer von Verletzten aus der Ukraine mitzumachen. Dabei rächt es sich jetzt auch, dass die Schweiz es verpasst hat, beim Zivilschutzmechanismus der EU anzudocken. Die EU habe über diesen Mechanismus zusammen mit fünf Drittstaaten seit Kriegsbeginn 845 verletzte Zivilisten und auch Soldaten aus der Ukraine evakuiert, teilen Diplomaten in Brüssel mit.
Vor dem Hintergrund dieser Zahl bekommt das Veto des Bundes noch einmal eine andere Dimension. Ein Deal zwischen der EU und Norwegen kam gerade rechtzeitig. Brüssel finanziert ein Flugzeug, das für medizinische Evakuierungen spezialisiert ist. Stationiert ist die leuchtend gelbe Maschine aber in Oslo.
Die meisten Verletzten gehen nach Deutschland und Frankreich
«Ich danke Norwegen für die schnelle Umsetzung des Abkommens», sagte Janez Lenarcic kürzlich, EU-Kommissar für den Katastrophenschutz. Der brutale Krieg in der Ukraine habe Millionen in die Flucht getrieben, inklusive besonders verwundbarer Patienten, die dringend medizinische Hilfe benötigten. Das neue Flugzeug könne zu einem Zeitpunkt in Betrieb genommen werden, zu dem es besonders gebraucht werde.

Norwegen ist einer von fünf Drittstaaten, die sich am Zivilschutz- und Krisenmechanismus der EU beteiligen. Entsprechende Vereinbarungen abgeschlossen haben auch die Türkei, Serbien, Nordmazedonien und Montenegro. Der Grossteil der Verletzten wird in Spitäler in Deutschland und Frankreich transferiert. Doch auch Norwegen hat nicht ausgeschlossen, Soldaten zu übernehmen.
Die Schweiz habe bisher kein Interesse signalisiert, sich am Mechanismus zu beteiligen, heisst es in Brüssel. Brisanterweise könnte die Schweiz auch ohne Abkommen auf die Hilfe des Katastrophenmechanismus der EU zählen. Neben Partnerländern können auch Nachbarstaaten den Mechanismus anrufen. Um sich an Hilfsaktionen zu beteiligen, brauche es aber eine Rechtsgrundlage, so die EU-Kommission. Derzeit schickt die EU über diesen Mechanismus auch Löschflugzeuge nach Südeuropa, um dort beim Kampf gegen Waldbrände zu helfen.
So argumentiert der Bund
Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren hatte sich in einer ersten Reaktion auf die Anfrage offen für eine Übernahme verletzter Ukrainer gezeigt. Nach längeren Abklärungen legte das Aussendepartement (EDA) jedoch ein Veto ein. Schlüsselargument ist die Neutralität. Neutrale Staaten dürfen zwar verletzte Soldaten kriegsführender Länder pflegen. Nach der strikten Auslegung der Neutralität müsste die Schweiz aber dafür sorgen, dass Soldaten nach der Genesung nicht mehr an Kriegshandlungen teilnehmen könnten, so das EDA. Dafür müsste die Schweiz die Soldaten allenfalls internieren.
Grünen-Parteipräsident Balthasar Glättli schreibt dazu auf Twitter: «Dass aus neutralitätsrechtlichen Gründen keine Soldaten gesund gepflegt und dann wieder in den Krieg gelassen werden dürfen, ist einleuchtend.» Aber selbst bei enger Auslegung dürften auch verwundete Soldaten in der Schweiz gepflegt werden, wenn die Schweiz sie danach nicht zurückreisen lasse.
Heftig reagierte auf Twitter die ehemalige Nationalrätin Kathy Riklin. Die Wiederaufbaukonferenz in Lugano zu organisieren, aber gleichzeitig die Aufnahme von Verletzten in Schweizer Spitälern abzulehnen, sei unsäglich. Die Hilfe vor Ort sei zudem offenbar erst noch in Planung.
Korrektur: Am 18.7.2022 um 21.45 Uhr haben wir Ida Glanzmann korrekt als Luzerner Nationalrätin bezeichnet. Eine frühere Version des Artikels hatte sie irrtümlich dem Kanton Aargau zugeordnet.
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