«Maduro ist ein falscher Sozialist»
Der Jesuitengeneral und Politologe Arturo Sosa versteht sich als Anwalt der Armen und fordert in Venezuela einen Systemwechsel.

Vater General, Sie sagten neulich, es gebe eine Verschwörung gegen Papst Franziskus. Wer sind die Verschwörer, und was wollen sie?
Es gibt eine Strategie gegen den Papst, etwa in den Medien der USA. Die Konservativen bekämpfen Papst Franziskus. Und das hat eine lange Geschichte. Eigentlich kämpfen sie nicht gegen den Papst, sondern gegen das Zweite Vatikanische Konzil, das vor 50 Jahren die Kirche erneuern wollte. Franziskus will das Konzil wirklich umsetzen. Darum bekämpfen sie ihn und hoffen auf einen neuen Papst, der nicht in diese Richtung der Erneuerung geht.
Aktuell steht die am 6. Oktober in Rom beginnende Amazonas-Synode im Fokus der Kritik: Traktandiert ist auch der Vorschlag, verheiratete Priester zuzulassen. Kommt es zum Schisma?
Das Hauptthema der Synode ist die Ökologie, der Schutz des Regenwalds. Franziskus hatte 2015 seine Umwelt-Enzyklika «Laudato si» vorgelegt. Seither ist nichts passiert, es ist im Gegenteil schlimmer geworden.
Die Amazonas-Synode missfällt dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro zutiefst. Also ist sie hochpolitisch?
Bolsonaro versucht, die Synode zu stoppen. Die Bischöfe in Brasilien aber sind gegen ihn. Wir sind überzeugt, dass die Kirche in Amazonien einen grossen Schritt vorwärtsmachen muss. Deshalb haben sich die Diözesen der neun Länder, die teilhaben am Amazonasgebiet, zu einem grossen Netzwerk zusammengeschlossen. Das alles ist politisch, gewiss, aber es ist das Resultat unseres Glaubens: Wir wollen die Leute, die dort leben, und ihren Boden schützen. Ich nehme an der Synode in Rom nicht teil, weil ich nicht aus dem Amazonasgebiet komme.
Natürlich waren viele Jesuiten sehr gebildete, aus guten Familien stammende Intellektuelle. Sie haben aber häufig in Spitälern mit den Armen gelebt.
Trotzdem nochmals zu den «verheirateten Priestern». Die werden im Vorbereitungsdokument der Synode angesichts des Priestermangels im Amazonas eigens erwähnt.
Die Frage ist doch: Wie können wir der Kirche vor Ort und den Leuten besser dienen? Um ihnen gerecht zu werden, müssen wir andere Formen der Kirchenämter finden. Wir gehen von den Bedürfnissen der Gläubigen aus und fragen, wie sich die Kirche verbessern muss. Die Synode ist aber kein Parlament, das abstimmen kann. Sie kann lediglich Vorschläge zuhanden des Papstes machen.
Sind Sie Befreiungstheologe?
Ich bin kein Theologe, sondern Politologe. Aber natürlich gehöre ich zur Kirche, in der die Befreiungstheologie geboren wurde. Sie war eine frische Frucht des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Versammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrates von 1968 in Medellín, die sich zur vorrangigen Option für die Armen bekannt hat.
Früher waren die Jesuiten an der Seite der Reichen und Mächtigen, heute an der Seite der Ausgeschlossenen und der Armen. Wie kam dieser Wandel?
Der erste Teil Ihrer Frage trifft historisch so nicht zu. Die Jesuiten engagierten sich von Beginn an für die Armen, zum Beispiel in Paraguay, wo sie im 17. Jahrhundert die indigene Bevölkerung in Siedlungen zusammenführten. Natürlich waren viele Jesuiten sehr gebildete, aus guten Familien stammende Intellektuelle. Sie haben aber häufig in Spitälern mit den Armen gelebt. Zur Zeit der Pest wurde unser Generalhaus in Rom zu einem Spital umfunktioniert.
War nicht das Zweite Vatikanische Konzil ein Wendepunkt?
Seit dem Konzil gehen wir noch stärker in diese Richtung. Unsere Mission heisst Glaube und Gerechtigkeit. Wir wollen die Welt durch die Augen der Armen sehen, ihre Perspektive und ihr Leben teilen – in der Nachfolge Jesu. Das ist die Frucht der Befreiungstheologie. Selbst Papst Benedikt sagte 2008, dass sich diese nicht von einer linken Ideologie, sondern vom Evangelium herleitet.
Das Kapital hängt vom Besitzer des Öls ab, es sollte aber von den Arbeitern abhängen, von den Leuten, die produzieren.
Sie sind wie Papst Franziskus eher links, wie er Jesuit und Lateinamerikaner. Sind Sie sein Berater?
Nein, nicht sein Berater. Ich sehe Papst Franziskus vier- oder fünfmal pro Jahr, an den Versammlungen der Jesuiten, manchmal auf eher familiäre Weise, wenn er in mein Haus kommt. Natürlich sind wir freundschaftlich verbunden, sprechen wie Brüder untereinander. Und manchmal sucht er Rat.
Sie sind Venezolaner und Politologe. Wo sehen Sie die Ursachen für das Politikversagen in Ihrem Land?
Das hat eine lange Geschichte. Sie begann vor hundert Jahren, als Venezuela ein erdölabhängiges Land wurde. Der einzige Besitzer und Profiteur des Gewinns aus dem Erdöl ist der Staat, nicht Private. Alles geht an den fragilen Staat. Wer die Regierung innehat, hat auch die wirtschaftliche Macht. Der Staat erhält, ohne arbeiten zu müssen, aus dem exportierten Öl eine Art Dividende. Der von politischen statt von ökonomischen Kriterien bestimmte Reichtum kommt nicht aus der Produktion der Arbeiter, sondern aus dem vom Staat exportierten Öl. Das schafft auch eine Mentalität des Begehrens: Die Leute in Venezuela glauben, das Recht zu haben, vom Staat Leistungen im Bereich der Gesundheit und der Bildung zu erhalten.
Das höhlt die Politik aus?
Ja, auf der politischen Ebene kann es so keine Demokratie geben. Denn normalerweise hängt ein Staat von der Gesellschaft ab, davon, was er von der Gesellschaft erhält, in Form von Abgaben und Steuern, um dann öffentliche Leistungen im Bereich der Bildung und Gesundheit zu finanzieren. In Venezuela ist das Gegenteil der Fall: Die Gesellschaft hängt vom Staat ab.
So funktioniert der Sozialismus.
Das ist ein falscher Sozialismus, ein Sozialismus, der von den Dividenden abhängt. Das Kapital hängt vom Besitzer des Öls ab, es sollte aber von den Arbeitern abhängen, von den Leuten, die produzieren. Viel mehr noch als Maduro hatte Hugo Chávez im Namen des Sozialismus diese Dividendenkultur kultiviert. Unter Chávez wurden täglich 3 Millionen Barrel zu je 100 Dollar verkauft, heute 700'000 zu 40 Dollar. Die Armut kommt von diesem System her, nicht von den US-Sanktionen.
Heue sind wir 15'000 Jesuiten, in 20 Jahren werden es noch 12'000 sein.
Sprechen Sie darum von einem notwendigen Systemwechsel?
Darum sage ich: Nicht nur die Regierung, auch das System muss sich wandeln. Das ist die grosse Herausforderung. Die Demokratie ist der Weg dazu.
Und Juan Guaido der Mann, der das bewerkstelligen kann?
In der aktuellen Situation ist eine Fortführung der Präsidentschaft Maduros nicht gut für das Land und das Volk. Guaido ist die Stimme einer breiten Opposition. Er geht in eine gute Richtung, er will Wahlen mit internationalen Standards. Die letzten Wahlen von 2018 waren nicht gut. Um gute Wahlen mit der Partizipation aller und unter internationaler Beobachtung zu organisieren, braucht es mindestens ein Jahr. Zunächst braucht es also eine Übergangsregierung, die auf die humanitäre Krise reagiert, Lebensmittel, Medikamente und Ärzte ins Land holt.
Der Vatikan hatte den Schweizer Kirchendiplomaten Emil Paul Tscherrig betraut, zwischen Regierung und Opposition zu vermitteln.Was hat er erreicht?
Das war vor zwei Jahren und ging schief, weil Maduro sein Wort nicht hielt. Die Vermittlung endete mit einem scharfen Brief des vatikanischen Staatssekretariats. Es warf Maduro vor, die Bedingungen nicht zu erfüllen, etwa Neuwahlen anzusetzen oder eine Amnestie für politische Gefangene vorzunehmen.
Was tun die Jesuiten heute für die Flüchtlinge an der kolumbianischen Grenze?
Wir helfen über unseren eigenen Flüchtlingsdienst. Aber auch Diözesen haben im Transitbereich Häuser, wo Flüchtlinge essen und schlafen können. Wir helfen den Flüchtlingen, dass sie in Kolumbien legal einreisen können. Ich möchte diesem grosszügigen Land Danke sagen, das bisher 1,5 Millionen Venezolaner aufgenommen hat. Jahre zuvor war es umgekehrt, wir hatten wegen des Krieges in Kolumbien 3 Millionen Kolumbianer bei uns aufgenommen.
Haben die Jesuiten überhaupt Zukunft? Der Nachwuchs ist spärlich.
Heue sind wir 15'000 Jesuiten, in 20 Jahren werden es noch 12'000 sein. Und diese werden jünger sein als die Jesuiten heute. In Europa und Amerika werden es weniger sein, auch in Lateinamerika, dafür mehr in Afrika und Asien.
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