FortsetzungsromanLesen Sie die Folgen 60 – 81 von «Das Licht hinter den Bergen»
Der Berner Autor Thomas Röthlisberger erzählt in seinem meisterhaften Roman von einer schicksalhaften Begegnung.

Folge 81
Er hatte Babigna gestanden, dass er das hinterhältige Spiel mit der Polizei inszeniert hatte, damals als Anna ein paar Tage unten in der alten Mühle hatte ausharren müssen.
Allerdings hatte er gehofft, Anna bei sich verstecken zu können. Als aber Anton nicht auf sein Angebot eingegangen war, hatte er eingesehen, dass es vielleicht zu auffällig gewesen wäre. Und so hatte er das Spiel zu Ende spielen müssen, auch wenn es schliesslich niemand etwas nützte.
Kurz vor seinem Tod war er unausstehlich geworden. Er hatte kein gutes Wort mehr für sie gehabt, hatte nur noch Anna im Kopf und wie er ihr an den Rock könnte. Tatenlos habe sie zusehen müssen, wie er von Tag zu Tag tiefer im Sumpf seiner Besessenheit versunken sei. Bis er in der Schlucht zu Tode gestürzt war.
«Ich war ausser mir», sagte Babigna leise. «Ich war wie er, nur mit entgegengesetzten Vorzeichen. Anna war schuld, sie hatte mir Giusep genommen.»
Anton wandte sich um und kam an den Tisch. Zum ersten Mal blickte Babigna ihn an. Er sah die glühende Eifersucht in ihren Augen.
«Du wärst nicht glücklich geworden mit ihm», sagte er.
«Du weisst das. Man kann das Glück nicht zwingen.»
Babigna senkte den Kopf wieder. Er dachte daran, ihr die Wahrheit zu erzählen über Giuseps Tod. Aber das würde ihr nicht helfen. Im Gegenteil.
«Was wirst du jetzt tun?», fragte sie ängstlich. Er hob die Schultern.
«Ich weiss es nicht. Bei Gott und all den Toten, Babigna, ich weiss es nicht.»
Als er schon die Glut an den Lippen spürte, drückte er den Zigarettenstummel im Blumentopf aus. Er nahm den Brief, faltete ihn und steckte ihn in den Umschlag zurück. Er blickte auf den Absender. Er hatte sich keinen Reim machen können auf dieses A und dieses G. Dass Anna einmal ihren ursprünglichen Familiennamen, Gruber, erwähnt hatte, daran erinnerte er sich erst, als er den Inhalt gelesen hatte. Der Inhalt? Ein paar wenige Zeilen. Und am Schluss dieser einzelne Satz.
Möchtest du deine Tochter kennenlernen?
Er hob den Blick. Das Licht stand kurz vor der Reise. Wenn es hinter den Grat sank und die Dämmerung aus dem Grund des Tals emporstieg, so wusste man doch, dass es im nächsten Tal noch einen Augenblick zögerte, bevor es sich lautlos über einen weiteren Kamm davonstahl. Von Tal zu Tal, von Grat zu Grat, bis die Bergketten sich ausdünnten, hinausliefen über sanfte Hügelzüge in das offene, weite, flache Land.
Dort, so stellte er sich vor, verweilte das Licht noch lange, bis es, immer längere Schatten hinter sich herziehend, über das Meer enteilte, durch die Dunkelheit einem neuen Morgen entgegen.
Er schloss das Fenster.
Ende
Die Folgen 1 bis 29 des Romans finden Sie an dieser Stelle: 1 – 29 «Das Licht hinter den Bergen»
Die Folgen 30 bis 59 des Romans finden Sie an dieser Stelle: 30 – 59 «Das Licht hinter den Bergen»
Folge 60
Sie traf nur Barbla an, die oben im Flur hin und herging, um sich etwas Bewegung zu verschaffen nach dem Mittagsschlaf. Babigna, deutete sie an, sei nach Hause gegangen.
Die Zeit wurde Anna lang, bis sie hörte, dass Anton die Schüler entliess. Sie wartete, dass es still wurde unten und sie sicher sein konnte, niemand mehr anzutreffen. Die Tür zum Schulzimmer war offen. Anton stand am Fenster und rauchte. Sie klopfte an den Türrahmen, um ihn nicht zu erschrecken. Er wandte sich um.
«Störe ich?», fragte sie. Er schüttelte den Kopf.
«Natürlich nicht.»
Sie trat zu ihm ans Fenster und hielt ihm den Zettel hin.
«Wo hast du das her?»
«Er steckte an der Kirchentür», sagte sie und berichtete ihm, was vorgefallen war.
«Ich bin keine Jüdin», sagte sie. «Du weisst das.»
«Wer tut so etwas?», überlegte er, ohne auf ihre Beteuerung einzugehen.
«Du glaubst mir nicht!», sagte sie aufgebracht.
«Ich schon. Aber die unten, im Dorf?»
«Und wenn sie tatsächlich recht hätten?», fragte sie provokativ.
«Was sollte das ändern für mich?»
«Bist du sicher?»
«Anna, ich bitte dich!»
Sie lehnte sich an das nächste Schülerpult und sah zu Boden.
«Da ist noch etwas», sagte Anton. «Dass du niemand gesehen hast auf dem Weg – vermutlich hat die betreffende Person nur die Tür betätigt, die Kirche aber gar nicht verlassen.»
«Du meinst, es war noch jemand da, als ich mich wieder allein glaubte?»
Er nickte. Anna lief ein kalter Schauder über den Rücken.
«Was soll ich tun?», fragte sie leise.
«Nichts. Es ist ja nichts geschehen. Man will dir Angst ein jagen. Mehr nicht, vorläufig. Und der Urheber wird sich früher oder später verraten. Darauf kannst du zählen.»
«Es macht mir Angst», sagte sie. «Es ist nur der Anfang. Ich kenne das. Bei uns zu Hause war das nicht anders. Zuerst kommen die Beschuldigungen, dann die Übergriffe und schliesslich …»
«Ich glaube nicht, dass man das hier mit dem vergleichen kann, was bei euch vor sich geht», unterbrach er sie.
«Es ist nur eine Frage der Zeit.»
«Wir sind ein Rechtsstaat», sagte er, und sie hörte aus seinem Tonfall, dass das etwas war, woran er unbedingt glaubte.
«Willst du damit sagen, Österreich war das nicht?» «Anna, wir wollen nicht streiten. Was bei euch geschieht, kann hier nicht eintreten.»
«Wie kannst du dir so sicher sein?»
«Es darf einfach nicht geschehen», sagte er nachdenklich. Später, als sie allein in ihrem Zimmer war, dachte sie darüber nach, ob es richtig war, dass sie Anton den Zettel überlassen hatte.
«Vielleicht finden wir heraus, wessen Handschrift es ist», hatte er gemeint.
Derjenige, der das geschrieben hat, wird kaum so dumm gewesen sein und seine Schrift nicht verstellt haben. Ach Anton, hatte sie in Gedanken hinzugefügt, was muss das Leben dir denn noch antun? Sie merkte, dass die Beleidigung, die Ausgrenzung sie persönlich trafen. Dass etwas in ihr drin war, dieses Virus, das sich regte und empörte.
«Ich weiss nicht, wie lange ich der Sache noch zusehen kann», sagte Babigna.
Sie legte den Löffel in den Teller und seufzte. Barbla traf den Mund nicht und bekleckerte sich mit Suppe.
«Wovon sprichst du?», fragte Anton. Babigna stand auf, um Barblas Gesicht und Schürze zu säubern. Anna sah von ihrem Teller auf.
«Giusep», sagte Babigna. «Er wird immer seltsamer. Er trinkt zu viel.»
«Das ist nicht neu.»
«Er spricht nachts mit Clara.»
«Im Schlaf?»
«Nein. Unten in der Küche. Im Dunkeln.»
Seit wann schlief Babigna in Giuseps Haus, überlegte Anton. Hatte er da etwas verpasst?
«Bist du ihm nachgeschlichen?» Babigna nickte.
«Ich dachte zuerst, da sei tatsächlich jemand bei ihm. Als ich aber den Namen hörte, war mir klar, dass er mit dem Alkohol Geister heraufbeschwor.»
«Und?», wollte Anton wissen. «Was hast du gemacht?» Babigna kniff die Augen zusammen, dass nur noch kleine, dunkle Schlitze zu sehen waren.
«Ich sprach ihn an. Er reagierte nicht. ‹Giusep, mit wem sprichst du – da ist niemand.› Er drehte sich um. Man sah kaum das Weisse in seinen Augen, so dunkel waren sie. ‹Siehst du denn nicht?›, sagte er. ‹Clara ist da. Sie ist zurückgekommen zu mir!› – ‹Blödsinn›, entgegnete ich. ‹Du hast getrunken. Geh ins Bett!›»
«Du brachtest ihn so weit?», fragte Anton. Babigna schüttelte den Kopf.
«‹Du verstehst das nicht›, sagte Giusep. ‹Wie solltest du auch? Sie ist zurückgekommen. Wir brauchen nur noch etwas Zeit.›»
«Wir?»
Babigna hob die Schultern.
«Ich fürchte, es ist der Alkohol. Er halluziniert. Er verliert den Verstand.»
«Vielleicht sollte man Doktor Brunner informieren», schlug Anton vor. «Auf ihn hört er noch am ehesten.»
«Das habe ich doch schon getan. Und weisst du, was der mir geantwortet hat?»
«Lass mich raten», sagte Anton. «Wahrscheinlich hat er ge sagt: ‹Jeder holt sich den Tod auf seine Weise.›»
«Das wäre ihm tatsächlich zuzutrauen», ereiferte sich Babigna und zerknüllte das Küchentuch in ihren Händen. «Er ist imstande und schaut seelenruhig zu, wie die Leute in ihr eigenes Unglück laufen.»
Folge 61
«Er weiss da sehr wohl zu unterscheiden, wem noch zu helfen ist. Nun?»
«Also, er hat gesagt: Soso, der alte Arquint geht nochmals auf Freiersfüssen.»
«Auf Freiersfüssen?»
«Ja, und dann hat er gelacht. Ganz unsäglich gelacht hat er. Und mehr war nicht aus ihm herauszubringen. Lass ihn machen, sagte er, er kommt von selber wieder zur Vernunft. - Und der Alkohol?, fragte ich. Schütt ihn weg. Oder nein, besser nicht - giess Wasser dazu.»
«Tja», meinte Anton, «das hilft dir auch nicht weiter.»
«Als ob er das nicht merken würde, wenn ich das Zeug verdünne.»
Sie schmiss das Küchentuch in die Spüle, setzte sich wieder an den Tisch und löffelte geräuschvoll ihre Suppe aus.
Anna dachte an das Foto, das Giusep ihr gezeigt hatte. Sie ver suchte sich vorzustellen, wie die Frau auf dem Bild nachts in Giuseps Küche auftauchte. Und was die beiden miteinander zu reden hatten. Wie es war, eine Geistergestalt zu umarmen. Wenn sie selber zu trinken beginnen würde, könnte sie dann auch Josef herbeirufen? Sie schämte sich im selben Augenblick. Wie kam sie nur auf solch absurde Gedanken?
Babigna machte sich Sorgen um Giusep. Das war nur natürlich nach so vielen Jahren, in denen sie ihm und seiner Familie zur Seite gestanden hatte. Das beschäftigte sie mehr als die Sache mit dem dummen Zettel in der Kirche. Als Anton es ihr erzählt hatte, sagte sie nur, das schwappe jetzt halt herüber von drüben. Anna hatte mehr Unterstützung von Babigna erwartet. Der Zeitpunkt war nicht der richtige. Und es gebe wichtigere Bezugspersonen in ihrem Leben als die Anna Schwarz, die über den Berg gekommen sei und vielleicht tatsächlich jüdische Wurzeln habe. Man müsse das schon verstehen, hatte Babigna zu Anton gesagt.
Freitagabend. Anton war im Dorf gewesen. Er kam spät. Anna hörte ihn. Es war, als nehme er absichtlich keine Rücksicht. Sonst gab er sich jeweils Mühe, niemand aufzuwecken. Jetzt liess er die Tür ins Schloss fallen, dass es durch das Treppenhaus hallte. Dann schien er über etwas zu stolpern, es klirrte, er fluchte.
Sie hatte ihn noch nie fluchen gehört. War er betrunken? Sie traute es ihm nicht zu. Auch wenn sie den Ausrutscher durchaus verstanden hätte. Oder war das einfach seine unbeholfene Art, sie auf sich aufmerksam zu machen? War etwas vorgefallen im Gasthof?
Sie stieg aus dem Bett, schlüpfte in den Morgenmantel und öffnete die Tür. Im Vorraum brannte nur eine nackte Glühbirne, weil einer der Oberschüler die Glaskugel der Lampe mit einem Stock zerschlagen hatte. Das Licht traf Antons Gesicht ungefiltert und entblösste es. Anna erschrak. So bleich hatte sie Anton noch nie gesehen.
«Geht es dir nicht gut?» Er schüttelte den Kopf.
«Willst du hereinkommen?»
Sie deutete auf die Tür zu ihrer Kammer. Wieder schüttelte er den Kopf.
«Anton, was ist?»
Erst jetzt nahm sie wahr, dass er zitterte. Unmerklich, aber am ganzen Körper. Als hätte er Fieber. Sie ging zu ihm hin und griff nach seiner Hand. Sie war kalt.
Ein Ruck ging durch ihn, ein gequälter Laut entrang sich seinem Mund, als schluchze er. Er entzog Anna seine Hand, schlang beide Arme um sie und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Wie ein kleines Kind, das Zuflucht bei der Mutter sucht. Sie liess es zu, als hätte sie etwas Ähnliches erwartet.
Eine Weile standen sie so. Als sie merkte, dass er ruhiger wurde, löste sie sich behutsam aus der Umarmung. Ihre Gesichter blieben sich nahe. Sie erinnerte sich an die versteckte Trauer, die sie am Abend ihrer Ankunft in seinen Augen gelesen hatte. Jetzt war sie gewachsen, dunkel, bis an die Ränder hinaus.
Anton liess die Arme hängen, wie wenn er gemerkt hätte, dass sie zu nichts mehr nütze wären. Anna wartete.
«Derungs», murmelte Anton schliesslich. «Luzi und Derungs sind aneinandergeraten.»
Sie hatten wohl zu viel getrunken, dachte Anna. Eine Schlägerei unter Bauern. Das kannte sie auch. Aber was machte Anton so betroffen? Das schien nicht in zwei Sätze zu fassen sein.
«Mir ist kalt», sagte sie und zog ihn mit sich in ihre Kammer. Jetzt liess er es willenlos mit sich geschehen. Anna deutete auf den Stuhl. Sie selber setzte sich aufs Bett und hüllte sich in ihre Decken ein. Viel wärmer als draussen auf dem Flur war es hier auch nicht. Sie blickte Anton auffordernd an.
«Willst du mir nicht erzählen, was geschehen ist? Einfach von Anfang an?»
Anton räusperte sich. Es schien, als müsse er seine Stimme erst wiederfinden.
«Die Gaststube war schon beinahe voll, als ich kam», begann er. «Luzi war da, in Uniform, er hat Urlaub über das Wochenende. Er sass am Tisch mit den Jungen. Ich wechselte ein paar Worte mit ihm, über das Ungewisse, das Langweilige und Mühsame, das dieser Militärdienst mit sich bringt. Er erzählte der Runde Anekdoten und karikierte Vorgesetzte, dass alle immer wieder in lautes Lachen ausbrachen. Bei Giusep sassen die Üblichen, Bisaz, Conrad und ein paar andere, da war auch kein Platz frei. Ich setzte mich zu Capaul und Caviezel, dem Säger von der Mühle. Am selben Tisch sass auch Derungs. Leider. Aber es hätte wohl nichts am Verlauf geändert, wenn ich mich an einen anderen Tisch gesetzt hätte.»
Derungs habe ihn schon mit einem unverschämten Grinsen angesehen, als er an den Tisch getreten sei und Hände geschüttelt habe, fuhr Anton fort. Er habe versucht, Derungs’ Blick auszuweichen, denn es sei offensichtlich gewesen, dass die Schlange bereits wieder am Züngeln war.
Folge 62
«Derungs – du weisst, seine Kleine hat dich im Dorf als Hexe verschrien», sagte er.
Anna nickte. Sie hatte das Mädchen seither mehrmals gesehen, aber ob sie ein Lächeln angedeutet hatte oder ernst geblieben war, es war auf dasselbe herausgekommen. Es gab keine Anzeichen dafür, dass die kleine Derungs inzwischen ihre Meinung geändert hatte.
Die meisten hätten Luzi zugehört und die Kommentare von Derungs nicht beachtet, sagte Anton. Am selben Tisch habe auch Aldo gesessen, ein Grenzwächter aus dem Puschlav, der oben am Joch Dienst tue.
«Mit den Österreichern hatten wir es gut», sagte Aldo. «Das waren umgängliche Kerle wie wir. Keine Probleme. Aber seit die Deutschen die Kontrolle übernommen haben, ist es nicht mehr dasselbe. Zum Kotzen, diese Arroganz! Nun ja, nicht bei allen. Aber bei den meisten.»
Eigentlich sei er froh, versetzt zu werden, sagte er. Schade um das «Crusch Alba», grinste er. Ja, die Schweizer wüssten schon, warum sie die Grenzer nicht zu lange auf demselben Posten beliessen. «Und warum?», fragte Madlaina, die eine neue Runde brachte. «Sag nicht, du weisst das nicht», sagte Aldo. «Weil die sonst auf die Idee kommen könnten, am illegalen Grenzhandel mitverdienen zu wollen.»
«Du meinst schmuggeln?»
«Präzis, du schlaues Kind!» Madlaina verzog beleidigt ihren hübschen Mund, ging hinüber zu Luzi und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Ja, du musst die Besitzansprüche schon geltend machen», foppte einer am Tisch. «Bei diesen Söldnern, die wochenlang weg sind, weiss man nie …»
Da drehte sich Luzi um, zog Madlainas Kopf zu sich herab und küsste sie. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie rote Flecken im Gesicht. Auch die standen ihr gut.
«Nur damit sich keiner falsche Hoffnungen macht», sagte Luzi.
Giusep hatte den Vorfall auch mitbekommen. Seine Brauen zogen sich zusammen, aber er blickte rasch weg und brachte das Gespräch auf etwas anderes, bevor auch Derungs auf die Idee kam, einen seiner faulen Sprüche dazu abzugeben.
«Die Flora hat wieder entzündete Zitzen», sagte er zu Jon Conrad. «Eine mühsame Sache. Und die Milch zum Wegschütten.»
«Nimm Salbei», schlug Conrad vor. «Zerstoss sie mit etwas Melkfett und reib sie ein.»
«Wozu soll das gut sein, wenn nicht einmal die teure Salbe vom Tierarzt etwas nützt?»
«Lass es auf einen Versuch ankommen», meinte Conrad. «Ein bisschen Geduld musst du aber schon haben. Das geht nicht von heute auf morgen.»
Giusep sah sich heimlich wieder nach Madlaina um, aber die stand nicht mehr bei Luzi, sondern hatte am Buffet zu tun. Luzi ging nach hinten, wo das Klosett war. Als er zurückkam, blieb er bei Anton stehen.
«Alles beim Alten?», fragte er. Anton hob die Schultern.
«Wie man’s nimmt.»
«Das heisst?»
«Grundsätzlich schon.»
«Aha. Und Barbla?»
«Würde sich bestimmt freuen, wenn du wieder mal vorbeikämst.»
«Wird sich demnächst wohl kaum machen lassen. Ich muss morgen Abend wieder einrücken.»
«Klar. Ich richte ihr einen Gruss aus.»
«Tu das», sagte Luzi. «Und vergiss auch Anna nicht.»
Er klopfte Anton auf die Schulter und war im Begriff, zu seinen Kollegen zurückzukehren.
«Vergiss auch Anna nicht», mischte Derungs sich in diesem Augenblick ein.
Er hatte offenbar das kurze Gespräch mitverfolgt.
«Vergiss auch Anna nicht – der Lehrer hat ja schliesslich nicht nur eine Frau im Haus.»
«Du würdest besser den Mund halten», sagte Luzi verächtlich und wandte sich ab.
Aber Derungs liess sich nicht beeindrucken. «Jüdinnen sollen ja besonders …»
«Sie ist keine Jüdin!», unterbrach ihn Anton so laut, dass alle herblickten. Luzi war auf halbem Weg stehen geblieben.
«Vielleicht solltest du dein Kanarienvögelchen trotzdem nicht ausserhalb des Käfigs herumflattern lassen», sagte Derungs. «Sonst gerät es eines Tages unversehens in die Fänge eines Raubvogels.»
«Du warst das also!», zischte Luzi und war mit zwei Schritten bei Derungs.
Er zerrte ihn vom Stuhl hoch, dass der andere mit den Füssen in der Luft zappelte und nach Atem rang.
«Du bist also derjenige, der Anna hinterherspioniert und sie als Jüdin beschimpft!»
Derungs versuchte, etwas zu sagen, aber es gelang ihm nicht.
«Spar dir deine Sprüche, du Dreckskerl, es glaubt dir sowieso keiner! Einem, der die eigene Kuh bespringt! Aber was spielt das für eine Rolle – Hauptsache, du wirst deinen Saft im eigenen Haus los!»
Luzi hatte nicht vor, Derungs zu schlagen. Das wäre unter seiner Würde gewesen. Die anderen wussten das auch, und niemand schritt deshalb ein.
Luzi liess Derungs einfach fallen. Für Derungs aber kam die Befreiung so unerwartet, dass er ungebremst fiel, ohne jede Ab wehrbewegung. Er prallte auf den Stuhl, der unter ihm wegkippte, und schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf, dass es krachte.
Er blieb in einer seltsam verrenkten Stellung liegen, zuckte ein paar Mal mit den Gliedern, dann lag er still. Als wäre er unter Strom gestanden und jemand hätte den Stecker herausgezogen.
In der Gaststube hörte man nur noch das Tropfen des Hahns am Buffet und den schweren Atem der Männer. Luzi stand einen ewigen Augenblick nur da und starrte ungläubig auf den leblosen Körper. Dann schubste er ihn mit dem Fuss an.
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«He, mach keine Tänze hier, steh auf! Du sollst aufstehen, Herrgott nochmal!»
«Der steht nicht mehr auf», sagte Aldo, der hinzugetreten war und Luzi von Derungs wegzog.Er kniete sich nieder, suchte den Puls an Derungs’ Halsschlagader und schüttelte den Kopf.
«Camenisch, ruf den Arzt an! Und die Polizei!», forderte er den Wirt auf, der hinter dem Tresen hervorgekommen war.
Er stand auf und legte seine Hand auf Luzis Arm.
«Ein bedauerlicher Unfall», sagt er. «Es steckte keine Absicht dahinter, das können wir alle bezeugen. Trotzdem: Du wirst für das, was geschehen ist, geradestehen müssen.»
Er drückte Luzi, der so wenig Widerstand leistete wie eine Gummipuppe, auf einen Stuhl.
«Madlaina, bring ihm etwas Starkes!»
Aber Luzi schüttelte nur den Kopf und verbarg das Gesicht in den Händen. «Kein Schnaps», sagte er mit einer Stimme, die nicht ihm gehörte.
«Ist auch besser so, wenn die Polizei kommt», meinte einer halblaut, und andere stimmten ihm bei.
Langsam löste sich die Erstarrung im Raum, und das Gemurmel wurde lauter.
«Das ging nicht mit rechten Dingen zu», sagte ein zweiter.
«So rasch kann’s gehen, dass du vor dem Herrgott stehst», gab sein Nachbar zu bedenken. «Der da steht eher vor einem anderen.»
«Man muss seine Frau benachrichtigen», sagte Giusep, der bisher geschwiegen hatte. «Anton, kommst du mit?»
Der alte Gemeindepräsident schien in ihm erwacht zu sein, jemand musste Verantwortung übernehmen, wenn es sonst niemand tat. Und schliesslich war es sein Sohn, der die Schuld am Tod des Mannes trug.
«Moment!», rief Aldo. «Solange die Polizei nicht da gewesen ist, darf niemand das Lokal verlassen.»
Einige murrten.
«Ich gebe eine Runde aus», sagte der Wirt, um die Stimmung zu heben.
Die Männer an den übrigen Tischen rückten zusammen, damit alle Platz hatten, auch Bisaz und Conrad. Am Tisch, wo Derungs gesessen hatte, blieben nur Luzi, Giusep und Anton. Ohne sich abgesprochen zu haben, hielten sie eine Art Totenwache. Das war man auch einem wie Derungs schuldig. Trotz allem.
«Scheisse», murmelte Luzi. «Scheisse! Warum muss ausgerechnet mir das passieren?»
Er konnte auf einmal nicht mehr stillsitzen, schob den Stuhl zurück, stand auf und begann hin- und herzugehen, vom Tisch zur Theke und wieder zurück. Madlaina ging auf ihn zu, aber er kehrte um, bevor sie ihn erreicht hatte. Es war, als hätte er sie nicht gesehen.
«Was starrt ihr mich an?», schrie er plötzlich die an den anderen Tischen an. «Sehe ich aus wie ein Mörder? Was habe ich denn getan, was ihr nicht auch schon getan habt? Verdammte Idioten!»
«Setz dich!», fuhr Giusep ihn an. Er packte ihn am Ärmel und zwang ihn auf den Stuhl.
«Trink», sagte er und schob ihm sein Glas hin. «Es ist besser, wenn der Polizei klar ist, dass ihr beide zu viel getrunken habt. Los, weg damit!»
Luzi leerte das Glas gehorsam, als sei er wieder der kleine Junge, der sich nicht gegen den Willen des Vaters aufzulehnen wagte. Giusep hiess Madlaina noch zwei Gläser Grappa bringen. Anton versuchte, ihn davon abzuhalten.
«Nitschewo!», sagte Giusep, ein Wort aus dem Russischen, das er irgendwo aufgeschnappt und zu seinem eigenen gemacht hatte, obschon ihm der genaue Sinn nicht bekannt zu sein schien.
«Und kein Wort von Anna!», schärfte er Luzi ein. «Ihr seid wegen einer Bagatelle aneinandergeraten. Er hat sich über deine Uniform lustig gemacht.»
«Habt ihr gehört?», sagte er so laut, dass es alle mitbeka men. «Kein Wort über Frauen oder Juden! Und wenn einer irgendetwas von einer fremden Frau im Schulhaus zu faseln beginnt, dann hat er ein Problem …»
Das Murmeln im Raum nahm wieder zu, einige murrten, aber keiner wagte die Stimme gegen Giusep zu erheben.
Es dauerte lange, bis die Polizei eintraf. Sie kamen zu zweit. Sie untersuchten den Toten und liessen sich über das Vorgefallene informieren. Mehrmals musste der Wortführer Luzi auffordern, lauter und deutlicher zu sprechen. Der Umgangston blieb zurückhaltend, aber freundlich. Man kannte sich. Und es war mindestens fünfzig Jahre her, dass es im Dorf einen ungewöhnlichen Todesfall gegeben hatte. Die Fehden, die hier hinter den Mauern schwelten, gab es auch anderswo. Sie waren kaum von Belang und beschränkten sich im Normalfall auf grobe Worte.
Endlich kam auch Doktor Brunner. Er sei noch auf einer Krankenvisite gewesen, entschuldigte er sich, aber es habe laut telefonischer Auskunft ja wohl keine Eile mehr. «Wahrscheinlich Genickbruch mit unmittelbarer Todesfolge», diagnostizierte er, nachdem er Derungs Leiche untersucht hatte. Er kramte Papier und eine Füllfeder aus seiner Arzttasche und stellte den Totenschein aus. Während er vom Wirt einen Schnaps vorgesetzt bekam, holte einer auf sein Geheiss einen Leiterwagen. Giusep und Luzi hoben Derungs leblosen Körper hoch, trugen ihn hinaus und legten ihn in den Wagen. Anton winkelte ihm Arme und Beine an, weil sie sonst über den Holzrahmen hinaushingen. Der eine der beiden Polizisten, Doktor Brunner und Saluz, der Gemeindeschreiber, machten sich dann auf den Weg, um Derungs nach Hause zu bringen und seiner Frau mitzuteilen, was geschehen war.
Luzi wurde vom anderen Beamten weiter befragt.
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«Tja, was machen wir mit dir», sagte er, wohl eher zu sich selber als zu Luzi. «Wir müssen dich mitnehmen. In Untersuchungshaft. Tut mir leid. Vorschrift ist Vorschrift.»
Er sagte das mehr zu den anderen. Weil er nicht wusste, wie diese auf seine Ankündigung reagieren würden. Luzi selber verlor kein Wort zu seiner Verteidigung. Bereitwillig hielt er dem anderen die ausgestreckten Hände hin. Der schüttelte nur den Kopf. «Nein, nein – keine Handschellen.»
Etwa eine halbe Stunde später kam der Wachtmeister zurück. Allein. Der Arzt und der Gemeindeschreiber waren bei Derungs Frau geblieben.
«Wie hat sie es aufgenommen?», wollte Giusep wissen. «Das kannst du dir denken», antwortete der Uniformierte. «Das muss ich dir nicht erzählen.»
Er sagte es in einem Ton, dass Giusep nicht weiterfragte.
«Ihr könnt jetzt gehen», sagte der Mann, indem er sich den anderen zuwandte. Und zu Luzi, während er ihm die Hand auf die Schulter legte: «Du kommst mit uns.»
«Madlaina, zahlen!», riefen einige. Sie stand am Tresen, bewegungslos, als man Luzi hinaus führte. Anton und Giusep folgten ihm nach draussen.
Die Beamten hiessen Luzi in das Auto einsteigen, und einer der beiden setzte sich zu ihm in den Fond. Der Motor durchbrach die Stille der Nacht, und die Lichter des Wagens suchten sich einen Weg zwischen den Häusern hindurch, bis sie die Strasse ins Tal erreichten.
«Ich ging noch einmal hinein, um die Rechnung zu begleichen», sagte Anton nach einer Pause. «Dann schritten Giusep und ich nebeneinander her durch die Gassen. Der Schnee knirschte unter unseren Schuhen. Keiner sagte ein Wort. Als wir zu Giuseps Haus kamen, verschwand er, ohne sich zu verabschieden.»
Anton schwieg. Anna blickte ihn fragend an. «Was geschieht jetzt mit Luzi?» Er hob die Schultern. «Im besten Fall wird das Ganze als Unfall eingestuft.»
«Und wenn nicht?»
«Dann wird er wohl wegen Totschlags verurteilt.» Anna senkte den Kopf.
«Und ich bin schuld daran.»
«Nein», widersprach Anton. «Nein, das bist du nicht. Du kannst nichts dafür. Du sicher nicht.»
Er stand auf, trat ans Bett, nahm Annas Kopf in beide Hände und küsste sie leicht auf die Stirn. Der Verstand sagte ihm, dass ihre Stirn sich glatt und kühl anfühlte. In Wirklichkeit aber brannten seine Lippen, als seien sie mit einem glühenden Stück Eisen in Berührung gekommen. «Du sicher nicht», wiederholte er.
Er wich ihrem Blick aus und ging zur Tür.
«Du musst es auch Barbla sagen», rief sie ihm nach. «Es ist ihr Bruder.»
Anton nickte. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, tastete Anna mit den Fingerspitzen über ihre Stirn, weil sie glaubte, seine Lippen müssten Spuren hinterlassen haben.
Spuren waren aber nur die Eisblumen, die sich an den Scheiben ausgebreitet hatten, von seinem Atem, seiner Wärme, da er so nah am Fenster gesessen hatte. Sie bildeten ein wunderbares Ornament, eiskalt und vergänglich.
In der Nacht wachte Anna auf, weil ein Stoss durch das Haus gegangen war. Ein Erdbeben? Oder hatte sie nur geträumt? Es kam nichts mehr. Sie grub sich in ihre Decken ein. Die Stille dröhnte in ihren Ohren.
Unten im Kellergeschoss gab es einen Riss in der Mauer. Vielleicht war er jetzt grösser geworden. Sie würde am Morgen hinuntergehen und nachsehen.
9
Eigentlich hatte Giusep gedacht, darüber hinweg zu sein. Er verfluchte den Tag, als er Anna zum ersten Mal im Schulhaus angetroffen hatte. Und er dankte dem Herrgott gleichzeitig für diese Gnade.
«Der alte Arquint geht auf Freiersfüssen!»
Giusep lachte. In einem grossen Saal, in der Kirche hätte das Lachen gehallt. Hier im Stall konnte es sich nicht ausbreiten. Dumpf tönte es und ballte sich zu etwas Schmierigem zusammen. Wie ein Haufen dampfenden Dungs.
Anna könnte doch jetzt bei ihm wohnen. Jetzt, wo Luzi nicht da war. Das würde auch Anton entlasten, versuchte er es auf seine Seite zu drehen. Zudem konnte er nicht dauernd ins Schulhaus hinaufrennen. Das war schon aufgefallen.
Clara gehörte doch in sein Haus. Clara, die jetzt Anna hiess. Anna, die einmal Clara geheissen hatte.
Im Versteckten beobachtete er Anna genau. Ihre Augen, ihre Hände, ihre Hüften. Ja, einfach alles, was zu einem richtigen Weib gehört. Was an Anna war Clara? Was erinnerte wenigstens entfernt an Clara? War es nicht so, dass Clara in Vergessenheit geraten war? Dass all die Jahre einen grauen Schleier über ihre Gestalt gelegt hatten? Erst Anna war es gelungen, sie wieder zum Leben zu erwecken. Anna war nicht Clara. So viel Vernunft liess sein Verstand immerhin zu. Aber Anna war eine Art Reinkarnation, Claras Wiedergeburt und Auferstehung noch vor dem Jüngsten Tag.
Dass Anton ihm ins Spiel pfuschen könnte, wenn er Anna fortschicken oder melden würde, hätte ihm gerade noch gefehlt. Nachdem er doch alles so gut bedacht und eingefädelt hatte. Die Sache mit der Polizei, die das Schulhaus durchsucht hatte wegen Anna, während diese unten in der alten Mühle steckte.
Sie hatte etwas gekostet, diese Inszenierung, aber das war es ihm wert gewesen. Und den Verdacht auf Derungs zu lenken, dass dieser verantwortlich war am Polizeieinsatz und wahrscheinlich auch an dem blöden Zettel in der Kirche, war ein Leichtes gewesen.
Folge 65
Man konnte davon ausgehen, dass er mit seinem losen Mundwerk eher früher als später in die Falle tappen würde. Dass er sich dabei dann gleich den Hals brechen würde, hatte man allerdings nicht voraussehen können.
Um Derungs war es nicht schade, der schwieg nun ein für alle Mal. Aber Luzi tat ihm leid. Da würde er wohl nochmals etwas locker machen müssen. Es sei denn, die Polizeibeamten gingen auf die Version des Unfalls ein.
Giusep rieb Flora den Hals.
«Gutes Tier!»
Die Salbeipaste schien doch Wirkung zu zeigen. Er trat auf den Gang, rückte die Mütze zurecht, die sich beim Untersuchen der Zitzen verschoben hatte, und ging hinaus auf den Vorplatz. Neben dem Miststock schimmerte eine Pfütze in rötlichvioletten Farbtönen wie ausgelaufener Treibstoff.
Drüben vor dem Nachbarhaus wetzte eine Katze ihre Krallen am Holz der Türschwelle. Er erinnerte sich an Sus, die seltsame, beinahe weisse Katze. Nach Claras Tod hatte sie sich von niemand mehr berühren lassen ausser von Barbla. Er hatte seither keine eigenen Katzen mehr gehabt. Sie waren nicht sein Ding. Zu eigenwillig, zu unberechenbar. Und die Mäuse waren kein Problem, dafür hatte es genug Katzen in der unmittelbaren Nachbarschaft.
Noch bevor er Anna zum ersten Mal zu Gesicht bekam, hatte er Anton Vorwürfe gemacht wegen der fremden Frau, die dieser aufgenommen hatte. Es war ihm dabei um Barbla gegangen. Nur um Barbla. Sie war die wichtigste Frau in seinem Leben geworden nach Claras Tod. Und er hatte nie begriffen, wozu der Hirnschlag, die Behinderung, die seine Tochter getroffen hatte, gut sein sollte.
«Du hast meiner Tochter die Treue versprochen», hatte er Anton erinnert. «In guten wie in schlechten Tagen. Vergiss das nicht.»
Anton schwieg. Für Giusep war sein Schweigen ein Schuldeingeständnis.
«Nun?», forderte Giusep ihn heraus.
«Wir sind alle nur Menschen», sagte Anton.
«An dir ist ein Pfaff verloren gegangen», schnaubte Giusep und stieg die Treppe hinunter.
«Vielleicht», sagte Anton.
Giusep spuckte den ausgekauten Priem auf den Miststock und schickte ihm einen Strahl dunkelbraunen Speichels hinterher. Er ging zum Brunnen, wo das gefrorene Wasser die Röhre um einen eisigen Bart verlängert hatte, wusch sich die Hände rot und spülte den Mund aus. Die Kälte schoss ihm in einen oberen Backenzahn, dass er das Gesicht verzog. Er hatte bereits vergessen, dass er ihn schonen musste. Wann er das letzte Mal beim Zahnarzt gewesen war? Mit Sicherheit konnte er das nicht mehr sagen. Man hatte ihm einen Zahn gezogen, so viel war klar. Dazu hatte er nun gar keine Lust. Er deckte den schuldigen Zahn mit der Zunge ab, bis der Schmerz nachliess.
Wenn Anton damals tatsächlich Anna fortgeschickt oder polizeilich gemeldet hätte? Nicht auszudenken.
Schick die Anna zu mir, da ist sie in Sicherheit. Und Platz haben wir genug, hatte er Anton den Vorschlag gemacht, bevor er damals die Polizei aufbot.
Aber Anton war nicht darauf eingegangen. Das Einzige, was danach zu tun blieb, war, Anton vor Dummheiten zu bewahren. Wenn er davon faselte, er müsse Meldung machen, es ginge so nicht weiter. Andererseits merkte Giusep genau, dass seinem Schwiegersohn mehr an der Frau lag, als er sich selber eingestehen wollte. Er, Giusep, war zwar nur ein einfacher Bauer. Aber auf den Kopf gefallen war er nicht.
Unten auf der Strasse ging jemand vorbei und grüsste. Giusep nickte. Er hatte nicht mitbekommen, wer es war. Und wenn schon.
Er nahm die Mütze vom Kopf und fuhr mit der Hand durch das wirre Haar. Nicht jeder hatte in seinem Alter noch so viel Haar auf dem Schädel. Silbernes Grau, fast lockig, das im Morgenlicht glänzte, als er in die kleine, quadratische Fensterscheibe blickte neben der Stalltür. Hier stand doch ein ganzer Kerl, dachte er und zwinkerte sich zu.
Wozu war Anna über das Joch gekommen, wenn nicht für ihn? Clara hatte sie ihm geschickt. Ihm und nicht Anton.
Er sah zum Haus hinüber, das etwas unterhalb des Stalls lag, in seine dicken Mauern versunken wie in gewichtige Gedanken. Es wirkte leer, es war leer, seit Luzi den Marschbefehl erhalten hatte. Und jetzt sass er in Untersuchungshaft. Nun, Babigna war ja noch da. Babigna war überall, im Schulhaus bei Barbla, hier bei ihm, in der Kirche und im Pfarrhaus, im Dorf. Manchmal erweckte sie den Eindruck, als habe sie die Fähigkeit, sich in mehrere Personen aufzuteilen und an verschiedenen Orten gleichzeitig aufzutauchen. Manchmal war sie ihm fast ein wenig unheimlich. Sie hatte die Nase in allem drin, und er befürchtete, dass sie ganz einfach zu viel wusste. Nicht nur von ihm. Er war froh, wenn sie abends endlich nach Hause ging.
«Giusep», sagte sie beiläufig, «man sollte wieder einmal die Teppiche im Schnee ausklopfen.»
«Giusep, hast du nicht gesagt, du wolltest schon lange …» Sie wusste es immer so zu steuern, dass es ihm irgendwann verleidete und er schliesslich ihren Willen erfüllte. Oh, wie er diese Fähigkeit an ihr hasste! Und wie er sie zum Teufel wünschte, wenn sie ihn wieder so weit hatte. Kam es nicht einer Unterwerfung gleich? Verdammt! Das Schlimmste war, dass er, um ehrlich zu sein, zugeben musste, auch Clara hatte diese Fähigkeit besessen. Aber mit Babigna war er schliesslich nicht verheiratet!
Folge 66
Seit er allein im Haus war, holte er Abend für Abend das Album mit den alten Fotografien hervor. Die von Eltern und Geschwistern übersprang er, blätterte gleich weiter, bis Clara im Bild war. Wieder und wieder betrachtete er die wenigen Aufnahmen, auf denen seine Frau zu sehen war, strich mit dem rauen Zeigefinger über die Konturen ihres Gesichts und versank in tiefes Grübeln. Dann nahm er die Grappaflasche aus dem Arvenschrank, goss sich das Glas randvoll und trank eines und noch eines leer, bis sich Claras Züge zu verändern begannen, weicher wurden, jünger. Und er rieb weiter mit dem Finger über die Fotografie, bis die kranke Clara zur gesunden Anna geworden war.
Manchmal ertappte er sich dabei, dass er Annas Vorzüge aufzählte. Dass sie an Vorsprung gewann gegenüber seiner Ehefrau. Dass Clara verblasste und die junge Frau die alte aus dem Bild verdrängte. Wenn er, erschrocken über sich selber, auflachte, war es dieses schmierige Lachen, das sich nicht ausbreiten, nicht hell und fröhlich werden konnte.
Er schüttelte den Kopf und ging hinunter ins Haus.
«Das macht zu viel Umstände», wehrte Babigna ab, als er ihr seinen Vorschlag unterbreitete, er wolle die vom Schulhaus am kommenden Sonntag zum Essen bei sich einladen.
«Für Barbla ist der Weg zu uns herunter beschwerlich», wandte sie ein.
«Sie muss doch nur die Treppe hinunter», sagte Giusep. «Dann kann sie in ihrer Sänfte sitzen.»
«Es ist auch für Anton keine leichte Sache.»
«Ach was, der schafft das schon. Und sonst kann ihm Anna ja zur Hand gehen.»
«Anna? Wieso Anna?»
«Die kommt natürlich auch mit. Oder was hast du dir gedacht?»
«Du tust, als ob sie schon zur Familie gehört», sagte Babigna. Der schnippische Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
«Gewiss», nickte Giusep. «Offiziell tut sie das auch. Daran hat sich bis jetzt nichts geändert. Auch bei dir nicht, hoffe ich», fügte er hinzu und warf Babigna einen schrägen Blick zu.
Sie tat, als hätte sie es nicht bemerkt und ging in die Küche. «Und wenn es bis Sonntag nochmals tüchtig schneit?», rief sie.
«Dann nehmen sie eben den Schlitten. Beim Rückweg stehe ich Anton dann schon bei.»
«Es wäre doch einfacher», fing Babigna am nächsten Tag wieder an, «wenn wir es hielten wie gewohnt.»
«Ich will nicht immer am Tisch des Lehrers sitzen», brummte Giusep. «Man muss auch mal einen Ausgleich schaffen. Nicht dass es heisst, der alte Arquint ist ein Geizkragen, einer, der nicht einmal der eigenen Tochter eine warme Mahlzeit gönnt.»
«Ob ich nun dort oben koche oder hier unten, ist doch nun gehupft wie gesprungen», murrte Babigna.
«Ich greife dir dann schon unter die Arme», versprach Giusep.
«Mir bleibt aber auch gar nichts erspart», seufzte Babigna.
«Nun gehab dich doch nicht so», sagte Giusep ärgerlich. Je länger die Woche dauerte, umso unruhiger wurde er. Babigna konnte ihm nichts recht machen. Bei allem fand er etwas zu nörgeln. Und zu gebrauchen war er zu nichts. Babigna wollte ihn dann gar nicht erst in der Küche haben.
«Du verschlägst sonst schon genug Geschirr», sagte sie zweideutig. «Ich mische mich im Stall auch nicht in deine Gepflogenheiten ein.»
Gepflogenheiten, hatte sie gesagt, spitzzüngig und hochnäsig. Der Teufel soll dich…, dachte Giusep und presste die Zähne zusammen, damit ihm nichts herausrutschte.
Er hatte keine Lust mehr, weitere Niederlagen einzustecken. Zudem war es ja nur eine Frage der Zeit, und alles würde sich zu seinen Gunsten wenden. Morgen würde Anna kommen. In sein Haus. Anna würde bei ihm am Tisch sitzen, als ob sie das schon immer getan hätte. Und er musste dafür sorgen, dass es auch so blieb. Dass Anna blieb. Anders ging es nicht. Anders konnte es nicht mehr sein. Er hielt es nicht länger aus.
Giusep wusste, dass er die anderen vor den Kopf stossen würde. Zumindest Babigna und Barbla würden es nicht verstehen. Und Anton konnte sich wohl keinen Reim darauf machen. Giusep war es egal.
«Anna, bitte, setz dich hierhin», sagte er am Sonntag, als die Gäste in der Stube standen.
Er zeigte auf Claras Stuhl. Der Stuhl stand seitlich am Tisch, oben, neben dem Sitzplatz des Familienoberhauptes. Seit Claras Tod war es das erste Mal, dass er jemand auf ihrem Stuhl Platz nehmen liess. Bislang war dieser Stuhl, worauf Claras Namen eingeritzt war, unberührt geblieben. Niemand durfte Claras Platz einnehmen. Für Giusep war Clara gestorben, aber nicht tot. Er hatte gewusst, sie würde wiederkehren. Jetzt war sie da.
Anna sah die anderen fragend an. Babigna, von der sie die Bedeutung dieses Stuhles kannte, blickte weg, Anton hob die Schultern, Barbla knetete ihre gelähmte Hand. Bevor Anna es sich anders überlegen konnte, hatte Giusep sie bereits mit festem Griff auf den Stuhl gedrückt. Sie versuchte mehrmals, sich zu erheben, aber der unnachgiebige Druck von Giuseps Pranke liess es nicht zu.
Anton half Barbla auf den Stuhl gegenüber von Anna, so dass sie neben ihrem Vater zu sitzen kam. Dann setzte er sich zu ihr, um ihr bei Bedarf behilflich zu sein. Babigna blieb der Platz neben Anna. Während sie die Schüsseln aus der Küche holte, entkorkte Giusep den Wein und schenkte ringsum ein. Annas Abwehr liess er dabei nicht gelten. «Mindestens zum Anstossen», forderte er. «Das ist in diesem Haus so Brauch.»
Folge 67
«Prosit!», sagte er und hob sein Glas, nachdem Babigna allen die Teller geschöpft hatte.
«Danke», sagte Anna leise.
«Zu feiern gibt es allerdings nicht viel», meinte Anton. Was weisst du denn, dachte Giusep.
«Immerhin», sagte er. «Etwas auf dem Teller und einen guten Tropfen im Glas», fügte er hinzu, als er Antons fragenden Blick sah.
Er leerte sein Glas gleich zur Hälfte in einem Zug und leckte sich genüsslich den Schnurrbart, bevor er sich über seinen Teller hermachte.
«Wer lange kaut, wird früher satt», mahnte ihn Babigna, als er das Essen in sich hineinschaufelte.
«Wenn’s doch aber schmeckt», erwiderte er mit vollem Mund.
«Eben gerade darum», beharrte sie.
«Es sind ja keine Kinder am Tisch», maulte er.
Anna ass langsam. Babigna war eine gute Köchin. Aber neben Giusep fühlte sich Anna unwohl. Es war nicht dasselbe, ob er oben im Schulhaus an Antons Tisch sass oder hier an seinem eigenen. Und der Stuhl unter ihr brannte. Es war Claras Stuhl. Er duldete niemand anderen.
Sie erinnerte sich unvermittelt an die Tage unten in der alten Mühle, an das karge Essen, den Hunger, die Kälte. Und plötzlich hatte sie wieder diese Gerüche in der Nase, nach feuchten Mauern, nach Grauschimmel und altem Ziegenkäse. Vielleicht war es auch das Gewürz des Fleisches, das sie noch tiefer in die Vergangenheit führte. «Kuttelkraut», dachte sie. «Es muss Kuttelkraut sein.» Sie musste es ungewollt ausgesprochen haben.
«Thymian», nickte Babigna. «Bei euch heisst’s Kuttelkraut.» Sie assen schweigend. Giusep schenkte Wein nach und holte eine zweite Flasche, obwohl Anton abwehrte. Auch in Annas Glas goss er ganz wenig nach.
«Der ist gut für die Blutbildung», sagte er.
Anna starrte auf seine Hand. Er merkte es. Was hatte sie nur? Als er wieder an seinem Platz sass, sah er sich seine Finger an. Die knotigen Glieder, die raue, spröde Haut. Die Nägel. Er stand auf, ging in die Küche und kratzte mit einem Messer den Dreck unter den Nägeln hervor. Als er zurückkam, sah er, dass Anna den Teller von sich geschoben hatte.
«Nun ist Derungs also dort, wo er hingehört», sagte Giusep in das Klappern des Bestecks hinein. «Unter dem Boden.»
«Ich bitte dich!», empörte sich Babigna.
Barbla klopfte mit der Gabel auf den Tellerrand.
«Ist doch wahr», meinte Giusep etwas kleinlaut. «Immerhin hat er eine anständige Beerdigung bekommen. Da kann er sich nicht beklagen. Jaja, ich weiss», setzte er hinzu, weil niemand reagierte, «wer aus dem Dorf ist, ist einer von uns, egal wie er sich im Leben aufgeführt hat.»
«Der Tod ist ein Schnitter», hatte Pfarrer Padrun gesagt.
«Er schneidet die Ähren, auch wenn sie noch nicht ausgereift sind. Er fragt nicht danach, ob Kinder ihren Vater verlieren oder eine Frau ihren Mann. Aber er macht auch manches wieder gut, was im Leben nicht möglich schien.»
«Wenn ich einmal in der Holzkiste liege», sagte Giusep, «erwarte ich dann aber auch, dass über mich nur Gutes geredet wird.»
Er grinste und goss sich Wein nach. Ja, es war eine grosse Trauerfeier gewesen. Für diesen elenden Wicht schon fast eine grossartige. Der Schützenverein, dessen Mitglied Derungs gewesen war, hatte eine Delegation geschickt. Und der Chor, hatte, mit Unterstützung der Orgel, die Kirche in ein Klangmeer getaucht. So hatte Peider Padrun es in seinem Dank ausgedrückt. Das ganze Dorf war gekommen an diesem trüben Tag, fast alle, als gelte es, einen hochrangigen, verdienten Mitbürger zu Grabe zu tragen. Aber wahrscheinlich war es einfach der Schicksalsschlag gewesen, der die Familie getroffen hatte, dieser unerwartete Todesfall, der an das Mitgefühl der Dorfbewohner appelliert hatte. Oder an die Scham.
Giusep verscheuchte den Gedanken mit einer ärgerlichen Handbewegung. Nur keine Gefühlsduselei! Der Hundsfott hatte erhalten, was ihm zustand. Nur dass er dabei auch noch Luzi ins Unglück stürzen musste, war ein unnötiger letzter Triumph für ihn gewesen. Sakkerment!
Babigna räumte die Teller ab. Anna wollte sich erheben, um ihr zu helfen, aber Giusep hielt sie zurück.
«Du bist Gast hier. Gäste lassen wir nicht arbeiten bei uns.» Er stand auf, holte Kaffeetassen aus dem Schrank und Schnapsgläser. Anton stöhnte unüberhörbar.
«Du willst mir doch wohl keinen Digestif ausschlagen», sagte Giusep.
Babigna brachte Kastanienribel und Nidel. Giusep schob den Dessertteller von sich.
«Nur keine Eile – das hat Zeit.»
Er widmete sich ausgiebig seinem Glas, drehte und schwenkte es, bevor er den kristallklaren Grappa in einem Zug hinunterstürzte.
«Das ist nicht nur eine Wohltat für den Gaumen», sagte er in einem Ton, als sei es der Beginn einer Predigt. «Es ist Medizin. Für Leib und Seele.»
Er rülpste genüsslich.
«Es hilft über vieles hinweg», sagte er zu Anna, die nicht wusste, wohin sie ihren Blick wenden sollte. Sie schob einen Löffel Süssspeise in den Mund, um nichts erwidern zu müssen.
«Ein göttlicher Trunk», brummte Giusep und hatte bereits wieder die Flasche in der Hand. «Oder eher ein Destillat des Teufels», warnte Babigna, welche die Fortsetzung aus Erfahrung kannte.
Eine verspätete Fliege, die müde am Fenster gesurrt hatte, verirrte sich auf den Tisch, angelockt vom süssen Duft aus den Schüsseln. Giusep hieb mit der Hand nach ihr und wischte das zerquetschte Insekt auf den Boden.
Folge 68
Anna, dachte er, während er das Schnapsglas füllte. So nah war sie, er brauchte nur die Hand auszustrecken. Sie sass auf Claras Stuhl. Sie hatte Claras Platz eingenommen. Er hatte es ihr erlaubt. Er wollte es so. Aber das war noch nicht alles: Es sollte auch so bleiben. Anna sollte hier bei ihm bleiben, sie gehörte zu ihm. Sie gehörte ihm. Ihm, niemand anderem.
Aber wenn er jetzt tatsächlich seine Hand ausstreckte, um sie zu berühren, um sie festzuhalten, um seine Besitzansprüche geltend zu machen? Was würde dann geschehen? Lief er nicht Gefahr, alles zu zerstören? Wenn Anna nun nichts von ihm wissen wollte? Wäre ihr das zu verübeln? Er war ein alter Mann. Und seine Manieren, nun ja, die hatten seit Claras Tod gewiss gelitten. Aber er konnte ihr ein sicheres Leben bieten, alles, was sie brauchte. Und er war noch kräftig genug, ihr all das geben zu können, was sie von einem jüngeren Mann erwartet hätte.
Verdammt! Er hatte schon bei Derungs’ Beerdigung versucht, inmitten all der Leute Anna unbemerkt abseits zu drängen, um ein paar wenige Minuten ungestört mit ihr allein sein zu können. Er wollte ja nicht mehr, als sie betrachten können, ihr Gesicht, ihre Augen, ihre schlanke Gestalt. Er verlangte ja nichts, als ihre Hand eine Weile in der seinen halten zu dürfen, die Wärme zu spüren, das pulsierende Blut, ihren Atem. Das war doch nicht viel, bescheiden war es. Verglichen mit dem, was die Welt sonst von einem verlangte, war das doch fast nichts.
Obschon er sie beinahe so weit hatte, dass sie mit ihm auf die abgewandte Seite der Kirche gegangen wäre, wo das kleine Gräberfeld mit den alten Gedenksteinen lag, war doch immer wieder jemand dazwischengekommen und hatte sie aufgehalten. Und dann war es auch schon wieder zu spät gewesen.
Giusep überlegte fieberhaft, wie er Anna dazu bringen konnte, dass sie noch hierblieb. Andererseits hatte er ja versprochen, er würde Anton beistehen beim Transport von Barbla zurück ins Schulhaus. Die Gelegenheit musste sich also hier und jetzt ergeben. Womit konnte er sie dazu bewegen, die Stube zu verlassen, ohne dass die anderen Verdacht schöpften?
Er erinnerte sich, dass sich Anna zu einer streunenden Katze gebückt hatte, die ihr maunzend und mit erhobenem Schwanz nachgelaufen war. Sie hatte ihr zugesprochen, leise, ohne dass er die Worte verstand, und hatte sie am Kopf gekrault, bis sich die Katze vor ihr auf die Seite gelegt und ihr vertrauensvoll den schutzlosen Bauch hingehalten hatte.
Giusep dachte an die jungen Ziegen im Stall. Er beugte sich zu Anna hinüber und flüsterte ihr etwas zu. Sie blickte ihn erstaunt an, als hätte er etwas gesagt, was sie niemals von ihm erwartet hatte. Er nickte ihr auffordernd zu. Sie standen fast gleichzeitig auf.
«Anna möchte die jungen Zicklein sehen», erklärte er.
Er schwankte ein wenig und musste sich für einen Moment am Stuhl festhalten.
«Bleibt ruhig sitzen», sagte er. «Wir sind gleich wieder da.» Anton warf ihm einen erstaunten Blick zu. Einen misstrauischen, hätte Giusep behauptet. Aber er hatte jetzt keine Augen und schon gar keine Zeit für seinen Schwiegersohn. Als Anton das Lächeln in Annas Gesicht sah, das ihre Erwartung spiegelte, lehnte er sich beruhigt im Stuhl zurück.
Er legte seine Hand auf Barblas Hand, weil diese auf einmal so unruhig schien. Es war kalt draussen, obschon die Sonne hinter dem Hochnebel als matte Scheibe sichtbar war.
Nach der Wärme der Stube biss die Kälte umso heftiger zu. Anna durchfuhr ein Schauer um den anderen. Sie zog die Strickjacke enger um sich und eilte Giusep nach, der vor ihr die paar Stufen zum Stall hochstieg.
Als er die Tür öffnete, schlug ihnen ein warmer Schwall von Dung ins Gesicht. Anna machte einen Schritt zurück und rang nach Luft. Giusep sah sich nach ihr um und grinste.
«Im Schulhaus oben haben sie halt feinere Düfte», spottete er.
Anna nahm sich zusammen und betrat den Stall. Giusep schloss die Tür hinter ihr. Sie standen im Dunkeln. Durch die kleinen, beschlagenen Fensterscheiben drang nur wenig Licht. Es dauerte einen Augenblick, bis Anna sich daran gewöhnt hatte. Giusep stieg in die Stiefel und deutet auf das zweite Paar, das danebenstand.
«Das sind die von Babigna», sagte er. «Zieh sie dir an.»
Er drängte sich an ihr vorbei und ging voraus, durch den Gang nach hinten. Das Licht hatte er absichtlich nicht eingeschaltet. Er war nicht romantisch veranlagt, nicht einmal wenn er verliebt war. Er berechnete eine Sachlage einzig nach Nutzen und Vorteil. Wenn Anna in der Dämmerung den Überblick über die Örtlichkeit nicht gewinnen konnte, musste sie sich notgedrungen an ihn halten. So würde sie freiwillig in seiner Nähe bleiben.
Eiskalt berechnet!, dachte er und hätte beinahe laut heraus gelacht. Es war der Alkohol, der durch seinen Kopf irrte und einen Ausgang suchte. Ein Glas mehr und sein Lachen hätte alles zunichte gemacht. Zum Glück war ihm der Einfall mit den Ziegen rechtzeitig gekommen.
«Pass auf, wo du hintrittst!», rief er über die Schulter. «Die Ziegen sind ganz hinten.»
Sie ging an den Kühen vorbei, die unruhig wurden, sobald sie die Fremde rochen. Hinten, im Geviert der Ziegen, schlugen Hufe an das Gatter. Anna lief an den Kühen vorbei, so rasch es die ungewohnten Stiefel erlaubten.
«Nu», machte Giusep. «Nu, nu. Nur nicht so störrisch.»
Er war in das Abteil getreten und schubste das Muttertier beiseite. Die Jungen drängten sich in die hintere Ecke. Er griff sich das kleinste der drei und trug es zu Anna, die aussen am Gatter stand.
Folge 69
«Du darfst es ruhig streicheln», sagte er. Anna strich dem Böcklein über das Fell. Sie erschrak, als es mit dem Kopf gegen ihre Hand stiess.
«Das sind noch kleine Wildfänge», lachte Giusep. Er setzte das Tier ins Stroh und holte eines seiner Geschwister. Sein dunkles Fell wies einen weissen Fleck auf, oben zwischen den Knospen, wo die Hörner wachsen würden.
«Es ist das ruhigste von allen», sagte Giusep. «Willst du es halten?» Anna schüttelte den Kopf.
«Nein, natürlich nicht», meinte Giusep. «Du könntest dir die Kleider beschmutzen.» Er fasste ihre Hand, die oben auf dem Kopf des Tieres lag und zog sie zu sich herüber. Sie versuchte, ihm die Hand zu entziehen, aber Giuseps Kraft hatte sie nichts entgegenzusetzen. Er zog sie so weit über das Gatter, dass sie unter sich die Wärme und das Zittern des Böckleins spürte. Giusep presste ihre Hand auf seine Brust. Sein Gesicht war jetzt so nah, dass es nur noch eine dunkle Maske war. «Anna», sagte er, «hier drin …» Sein heisser Atem roch nach Essen und Schnaps. Mit einer heftigen Bewegung riss Anna sich los. Das Zicklein rutschte aus Giuseps Arm und sprang meckernd zu seinen Geschwistern.
«Anna!», rief Giusep, aber sie rannte bereits durch den Gang zur Stalltür, riss sie auf und verschwand.
«Anna, ich wollte doch nur …», murmelte Giusep.
Dann versteifte er sich, seine Fäuste ballten sich wie im Krampf. Er boxte die alte Ziege in die Seite, dass sie torkelte.
Anna hatte ihn zurückgewiesen. Ihn, Giusep Arquint. Das würde sie büssen! Himmelherrgottsakkerment!!
Er trat auf den Gang und schloss das Gatter hinter sich. Er trampelte wütend zur Tür, schleuderte die Stiefel von den Füssen, schlüpfte in die Schuhe und schmetterte die Stalltür hinter sich zu. Anna war nirgends mehr zu sehen.
Auf dem Weg hinunter zum Haus beruhigte er sich. Einfach Stillschweigen bewahren. Worüber nicht gesprochen wurde, das existierte auch nicht. Anna würde ihn wohl kaum blossstellen. Sie würde ihm einfach aus dem Weg gehen. Ja, das würde sie tun. Mehr nicht.
«Wo ist Anna?», tat er erstaunt, als er zurück in die Stube kam.
«Das fragst du uns?», sagte Babigna. «Das müsstest du doch selber am besten wissen.»
«Sie ging vor mir aus dem Stall», sagte Giusep. «Ich dachte, sie wäre bei euch.»
Er ging zu seinem Platz und schenkte sich vom Grappa nach. Anton stand auf und kam um den Tisch herum. «Was hast du mit Anna gemacht?», fragte er scharf. «Ihr die Ziegen gezeigt.»
«Und dann?»
Giusep leerte sein Glas und kniff die Augen zusammen, als hätte ein Blitzstrahl ihn geblendet. «Was und dann? Dann hat sie sich erschreckt, weil hinter ihr eine Kuh schiss. Was weiss ich. Jedenfalls ist sie auf und davon. Noch eine Frage?»
«Ich glaube dir kein Wort», sagte Anton.
Er holte Barblas Rollstuhl und machte sie reisefertig.
«Danke für das Essen», sagte er zu Babigna. «Wir kommen allein zurecht», wehrte er ab, als sie helfen wollte.
Giusep war in seinem Stuhl zusammengesunken und stierte mit leerem Blick vor sich hin. Er regte sich auch nicht, als er allein in der Stube sass.
Anna hetzte durch die Gassen. Sie sah nichts. Sie hörte nichts. Nur das Schnaufen der Tiere begleitete sie, das so anders gewesen war als dasjenige damals in Grossvaters Stall. Der Gestank von Dung und Kot. Giuseps fauliger Atem. Und seine Pranken, die nach ihr gegriffen hatten.
Wenn nur bald die letzten Häuser kämen, das offene Feld, die Strasse hinauf zum Schulhaus. Es stand hoch über dem Mief, dem Misstrauen, der Falschheit. Sie musste wieder hinauf. Nur dort war sie sicher.
Beinahe wäre sie mit zwei Frauen zusammengestossen, die ihr entgegenkamen. Sie blickten ihr erstaunt nach, als sie grusslos an ihnen vorbeilief.
«War das nicht die Jüdin vom Schulhaus?», fragte die eine.
«Was macht denn die beim alten Arquint?», wunderte sich die andere. «Noch dazu in Stallstiefeln?»
Giusep war auf seinem Stuhl eingenickt. Er träumte, er sitze an einem langen, gedeckten Tisch mit vielen anderen Menschen zusammen. Da sassen seine Verwandten, vollzählig, auch die Verstorbenen, da sassen die Leute aus dem Dorf. Man ass und trank.
Auf einmal war da eine Bewegung unter dem Tisch. Ein grosser Hund strich zwischen den Beinen der Gäste herum, schnüffelte hier, schnüffelte dort, immer in Giuseps Nähe. Plötzlich blieb er vor ihm stehen, drängte seinen mächtigen Kopf zwischen Giuseps Beine, schnaufte und sabberte, stiess die Schnauze in seinen Schoss und liess sich nicht wegschieben, war so zudringlich, dass die Nachbarn auf das, was unter dem Tisch vor sich ging, aufmerksam wurden. Und dann verwandelte sich der Hund im Traum und nahm menschliche Gestalt an.
Das war der Augenblick, als Giusep mit einem gurgelnden Schrei erwachte. Er zitterte und wusste im ersten Augenblick nicht, wo er war.
Anton liess sich im «Crusch Alba» nicht mehr blicken. Er ging seinem Schwiegervater aus dem Weg. Und er hatte ihn bis auf Weiteres mit einem Schulhausverbot belegt.
Aus Anna war nichts herauszukriegen. Sie schüttelte nur den Kopf und kniff die Lippen zusammen. Giusep hatte sie erschreckt, belästigt, wie auch immer. Warum Anna ihn durch ihr Schweigen schützte, begriff Anton nicht. Hatte sie ganz einfach Angst vor ihm? Hatte er ihr gedroht? Er beschloss, sie vorläufig in Ruhe zu lassen und den Namen des Schwiegervaters zu meiden.
Folge 70
Giusep hingegen traf man Abend für Abend in der Wirtschaft an. Madlaina, die stets hoffte, etwas von Luzi zu hören, bediente ihn zuvorkommend. Allerdings merkte sie sehr bald, dass Giusep auch nicht mehr wusste als die anderen. Dass Luzi in Uniform tätlich geworden war, liess für seine Zukunft nicht viel Gutes hoffen. Darüber war man sich zu Madlainas Kummer leider einig. Froh über Luzis Ausbleiben war einzig der Wirt.
«Solange Madlaina noch zu haben ist, rechnet sich jeder Chancen aus», sagte er hinter vorgehaltener Hand. «Wenn sie einem aus dem Dorf versprochen ist, schadet das dem Geschäft.»
«Du bist ein Lump», brummte Giusep. «Aber wenigstens bist du ehrlich.»
Der Wirt grinste, verzog sich hinter den Schanktisch und zog es vor, den Gesprächen nur zuzuhören. Derungs Tod war immer noch das Thema.
«Wenn Luzi nur nicht so ein Heisssporn wäre», meinte Jon Conrad.
«Schliesslich ist er der Sohn seines Vaters», sagte Peider Ca paul mit einem Seitenblick auf den Letztgenannten.
Giusep brummte etwas Unverständliches. Keiner hörte auf ihn.
«Wer Uniform trägt, sollte sich seiner Verantwortung bewusst sein», sagte Saluz, der Gemeindeschreiber.
Giusep schlug auf den Tisch. «Jemand musste den Hundsfott einmal in die Schranken weisen! Und du stell mir meinen Sohn nicht als hirnlosen Schläger hin!», fauchte er Saluz an.
«Vergiss nicht, dass du schon seit einiger Zeit nicht mehr der Gemeinde vorstehst», entgegnete Saluz kalt. «Heute sind auch wieder andere Meinungen erlaubt.»
Er blickte zu Carlo Semadeni hinüber, doch Giuseps Nachfolger tat, als habe er von der Auseinandersetzung nichts mitbekommen. Giusep wollte hochfahren, aber Jon Conrad hielt ihn zurück.
«Genug jetzt. Es kommen grössere Probleme auf uns zu als eine Schlägerei im Dorf.»
«Du musst es ja wissen», frotzelte einer am Nachbartisch.
«Hör Radio, lies die Zeitung», sagte Conrad.
«Der drüben gräbt sich doch sein eigenes Grab mit seinem Grössenwahnsinn», sagte der Wirt, als er eine weitere Runde Getränke an die Tische brachte.
«Das glaubst du», meinte Bisaz. «Vorläufig müssen die anderen die Gräber ausheben. So rasch geht das nicht vorbei.»
«Das wird Jahre dauern», sagte eine dunkle Stimme vom Eingang her.
«Sieh an, der Herr Pfarrer …»
Peider Padrun kam nicht jede Woche ins «Crusch Alba». Er war keiner, den die Bauern als einen der ihren ansahen. Aber er war sich bewusst, dass nicht die Kirche der Ort war, wo er erfahren konnte, was die Menschen im Dorf wirklich bewegte. Semadeni stand auf und rückte einen freien Stuhl für den Pfarrer an seinen Tisch. Peider Padrun nickte in die Runde. Die Bewegung wirkte etwas unbeholfen, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass er sich seinen Platz nicht selber aussuchen konnte.
«Du prophezeist also die Hölle auf Erden», stellte Semadeni fest, als sie die Hände schüttelten. «Jedenfalls für unseren Erdteil», schränkte der Geistliche ein.
Sie setzten sich.
«Und woraus schliesst du das?», wollte Semadeni wissen.
«Wer mit Gewalt rasch zum Erfolg kommt, verliert das Augenmass. Der Erfolg verlangt nach mehr.»
«Frankreich?», fragte Semadeni. «Holland», sagte Padrun. «Dänemark.»
«Und wir?»
«Gibt es einen Grund, warum wir verschont bleiben sollten?»
«Du bist doch beruflich ein Mann, der Hoffnung zu verbreiten hat, Zuversicht, Glauben an das Gute», sagte Semadeni stirnrunzelnd.
Madlaina brachte Wein für den Pfarrer. Er dankte, hob das Glas und nippte daran, als wäre es der Abendmahlskelch.
«Hoffen darf man immer», sagte er, nachdem er das Glas hingestellt und sich die Lippen abgeleckt hatte. «Aber bevor man sich an eine falsche Hoffnung klammert, ist es oft besser, man stellt sich der Realität.»
«Du bist und bleibst ein Rabenvogel, ein schwarzer», mein te Semadeni.
«Ich tue mein Bestes, um diesem Bild zu entsprechen», lächelte Padrun.
«Schwarz ist doch ursprünglich ein jüdischer Name», sagte der Wirt, der sich an Giuseps Tisch gesetzt hatte.
«Quatsch!», knurrte Giusep.
«Doch», beharrte Cavegn, «das habe ich irgendwo gelesen.»
«Er hat recht», mischte sich Saluz ein. «Schwarz ist ein Name, der im deutschen Sprachraum sehr häufig vorkommt. Er ist aber auch ein jüdischer Familienname. Die haben da ihre Stämme und denen werden bestimmte Farben …»
«Aber sie ist doch eine geborene Gruber, sie hat nur einen Schwarz geheiratet», unterbrach ihn Giusep.
«Das macht dann eben schon fast keinen Unterschied mehr», sagte der Wirt achselzuckend.
«Denkt doch, was ihr wollt», sagte Giusep resignierend.
Er spürte plötzlich, dass der obere Backenzahn, der seit Längerem nicht mehr ganz festsass, wieder empfindlich reagierte, wenn er heftig darauf biss. Und zu beissen hatte es nicht nur an diesem Abend viel gegeben. Schon einmal, als eine der Kühe eine abrupte Bewegung gemacht und ihn am Kinn getroffen hatte, während er ihr etwas einflössen wollte, hatte das unbeabsichtigte Zusammenschlagen der Zähne genau diesen Schmerz ausgelöst.
Folge 71
Er hatte einen Augenblick angehalten und war dann verebbt, so dass er ihm keine weitere Bedeutung zugemessen hatte. Jetzt aber blieb ein Unbehagen bestehen, etwas stimmte nicht, und er hatte die dumpfe Vorahnung, dass jederzeit ein Sprengsatz in seinem Mund explodieren könnte. Giusep kannte das, was dann folgte, aus jüngeren Jahren. Es war mit keinen guten Erinnerungen verbunden. Er zahlte, stand auf, nickte in die Runde und trottete nach Hause. Was sie über ihn und Anna reden würden, konnte er sich leicht ausmalen. Dass es ihm egal war, schien ein schlechtes Zeichen, so viel war ihm klar. Egal war es ihm trotzdem.
Am folgenden Tag spannte er den Hund vor den Schlitten, mit dem er jeweils die Milch in die Käserei brachte. Die Strasse ins Tal war noch mit Schnee bedeckt. Beim Hinunterfahren sass er auf, den Rückweg würde er neben dem Hund zu Fuss zurücklegen.
Es dauerte nicht lange bei dieser rasanten Fahrt, bis er unten bei der Sägerei neben der alten Mühle war. Er band den Hund draussen fest. Das Kreischen der Säge übertönte das Gluckern des Bachs, der hinter einer dicken Eiswand in die Tiefe unter der Brücke stürzte.
Caviezel hörte nicht, dass jemand kam. Auf dem Wagen hatte er einen mächtigen Arvenstamm, durch den sich das Sägeblatt frass. Es roch fast betäubend nach den frischen Sägespänen.
Giusep blieb stehen und sah eine Weile zu. Als Caviezel, der mit dem Rücken zu ihm stand, sich umdrehte, hob er die Hand. Caviezel nickte und deutete auf den Arvenstamm. Giusep verstand, dass der Säger den Stamm durchlaufen lassen musste, bevor er Zeit für ihn hatte. Er bückte sich, nahm eine Handvoll Sägespäne und roch daran. Dann liess er sie durch die Finger rieseln, dass es aussah, als ob es schneite. Schliesslich setzte er sich auf einen Stapel Bretter.
Die Sache dauerte. Einmal rief ihm Caviezel etwas zu, was er aber nicht verstand. Wahrscheinlich, dass er bald fertig sei. Giusep stand auf und ging nach vorn, wo die Handwerkzeuge des Sägers streng geordnet an der Wand hingen. Er nahm eine langstielige Axt herunter, mit der man grosse Holzkloben spaltete und wog ihr Gewicht in der Hand. Als er sie wieder hinhängte, entdeckte er ein kleines Handbeil, das ihm durch den seltsam gekrümmten Schaft auffiel. Er hob es von der Wand und fuhr mit dem Daumen über die Kante, um deren Schärfe zu prüfen. In diesem Augenblick begann die Säge auszurollen. Caviezel hatte den Antrieb ausgeschaltet und kam herüber zu Giusep, der auf seinen Daumen starrte. Blut tropfte von einer Wunde, die sich wie eine kleine Schlucht quer über die Daumenkuppe zog. Caviezel nahm Giusep das Beil aus der Hand.
«Frisch geschliffen kann tief ins Fleisch gehen», stellte er fest.
«Was willst du damit sagen?», fuhr Giusep auf.
«Dass man manchmal besser die Finger davon lässt.»
«Was weisst du schon», murrte Giusep.
«Vom Werkzeug viel, von Frauen wenig», lachte Caviezel.
Giusep ärgerte sich. Er blickte auf seine Wunde, die nicht zu bluten aufhören wollte, auch wenn er den Daumen in den Mund steckte. Er holte sein Taschentuch hervor, das zwar nicht mehr sauber war, aber als Notverband herhalten musste.
«Ich habe im Sanitätskasten Verbandzeug», bot der Säger an. Giusep schüttelte energisch den Kopf.
«‹Arquint musste sich in der Sägerei vom Betreiber einen Daumenverband anlegen lassen!› – ‹Wieso das denn?› – ‹Das Beil war zu scharf!›»
Er hörte schon das Gegröle, wenn sie im «Crusch Alba» über sein Missgeschick spotteten. Er knotete das Taschentuch notdürftig um den verletzten Daumen, wandte sich um und ging zum Tor.
«He!», rief ihm Caviezel nach. «Was wolltest du eigentlich?» Giusep gab keine Antwort. Mit der unverletzten Hand schob er das Tor auf. Nach dem schlechten Licht in der Sägerei blendete ihn die Helle des Schnees. Er band den Hund los und trottete neben ihm her die Strasse hinauf. In der Kälte begann die Daumenkuppe bald zu pulsieren. Giusep spuckte ärgerlich in den verkrusteten Schnee am Strassenrand. Nach und nach wurde ihm bewusst, dass ihm auf Caviezels letzte Frage tatsächlich die Antwort entfallen war.
Zwei Tage später begann der Backenzahn zu rumoren. Von einer Stunde auf die andere. Mitten in der Nacht. Giusep erwachte von einem dumpfen Schmerz im linken Oberkiefer, der ausstrahlte bis zum Ohr. Er tastete die Wange ab. Sie war heiss, als ob er fiebrig sei. Wenn er über die Haut strich, fühlte sie sich an, als stehe sie unter Spannung. Er stand auf, trat ans Fenster und öffnete es. Die kalte Nachtluft schien ihm gut zu tun. Nach einer Weile zog sich der Schmerz zurück, als habe er sich eines Besseren besonnen. Giusep atmete auf, schloss das Fenster und legte sich wieder hin. Aber die Wärme des Bettes machte die scheinbare Erholung in Kürze zunichte.
Der Zahn, der sich wie ein erwachendes Raubtier zu dehnen und zu strecken begann, dass der Schmerz in Stössen pulsierend durch Giuseps Schädel fuhr, entwickelte zunehmend sein Eigenleben. Eines, das diametral zu den Interessen seines Besitzers stand.
Es gab kein Bleiben im Bett. Wieder stand er auf, stolperte stöhnend hinunter in die Küche und goss sich ein Glas mit kaltem Wasser voll. Er nahm einen Schluck und behielt ihn so lange im Mund, bis er merkte, dass er seine kühlende Wirkung verlor. Im Moment glaubte er, eine Linderung zu verspüren, aber sobald er das Wasser ausgespuckt hatte, war alles wie zuvor.
Folge 72
Schliesslich gab er auf und tappte zur Schublade mit den Medikamenten, in der Hoffnung, eine Schmerztablette zu finden. Doktor Brunner hatte ihm vor zwei Jahren ein Rheumamittel verschrieben, als er seinem Rücken zu viel zugemutet hatte. Zu viel? Es blieb sich doch immer gleich – jemand musste die Arbeit machen. Da fragte keiner, ob man schon über sechzig war.
Er machte Licht und suchte nach der Brille. In der Schublade lagen verschiedene angebrochene Packungen. Zum Teil waren die Medikamente schon so alt, dass er sich nicht mehr erinnerte, wer in der Familie sie wozu benötigt hatte. Schliesslich fand er sein Rheumamittel. Die Schachtel enthielt gerade noch zwei Tabletten. Er füllte das Glas nochmals mit Wasser und spülte beide auf einmal hinunter. Dann schlurfte er in die Stube hinüber, und während er darauf wartete, dass das Medikament zu wirken begann, goss er, um sicher zu gehen, noch einen Grappa hinterher.
Die restliche Nacht verbrachte er in einem unruhigen Halbschlaf. Als er am Morgen beim Rasieren in den Spiegel blickte, stellte er fest, dass die linke Wange angeschwollen war. Der Schmerz war nach wie vor da, aber wenn man beschäftigt war, hielt er sich in Grenzen. Allerdings nur so lange, bis die Wirkung der Tabletten nachliess. Das geschah, noch bevor Babigna eintraf. Immerhin war die Stallarbeit zu diesem Zeitpunkt gemacht.
Babigna kam später als sonst. Sie fand Giusep in der Stube, halb liegend auf dem Ruhebett. Auf dem Tisch stand die Schnapsflasche. «Was ist denn mit dir? Bist du krank?»
«Warum kommst du erst jetzt?», wollte er wissen, ohne auf ihre Frage einzugehen.
«Ich war bereits oben im Schulhaus, bei deiner Tochter, falls du das vergessen haben solltest.»
«Das könnte eigentlich die Anna übernehmen», sagte Giu sep. «Die kann auch etwas tun für Unterkunft und Verpflegung», fügte er hinzu.
«Du kennst Barbla. Sie hat ihre Eigenheiten.»
«Weiberwirtschaft!», brummte Giusep und erhob sich mühsam.
«Sie ist schliesslich eine Arquint», sagte Babigna.
Sie ging in die Küche. Giusep folgte ihr. Neben der Spüle stand das benutzte Geschirr von zwei Mahlzeiten, in der Bratpfanne klebten eingebrannte Krusten. Babigna zog die Schürze über, krempelte die Ärmel hoch und machte sich an die Arbeit. Giusep zog die Schublade mit den Medikamenten auf und begann darin zu wühlen. Als ihm etwas zu Boden fiel, machte er sich nicht die Mühe, es aufzuheben.
«So, jetzt sagst du mir, was mit dir los ist!» Babigna hatte sich vor ihm aufgepflanzt und stemmte die nassen Hände in die Hüften. Giusep deutete auf seine linke Schläfe.
«Aha», sagte Babigna beinahe triumphierend. «Brummt wieder mal der Kopf. Wenn man halt schon am Morgen säuft …»
Giusep drehte sich zu ihr um, als hätte sie ihn mit einer Nadel gestochen. «Sei einfach still!», zischte er. «Dieser verfluchte Zahn!»
«Warum nicht gleich?», sagte Babigna erleichtert, weil es für einmal nicht der Alkohol war. «Lass mich mal sehen.» Sie warf einen Blick in die Schublade.
«Nichts Brauchbares. Dann musst du eben zum Zahnarzt.» Giusep schüttelte den Kopf.
«Das geht vorbei.»
«Da wäre ich mir nicht so sicher», widersprach Babigna.
«Vielleicht könnte mir Brunner nochmals eine Packung Rheumamittel geben?»
«Der schickt dich bestimmt zum Zahnarzt.» Giusep rieb sich über die geschwollene Wange. «Oder er reisst dir den Schuldigen gleich heraus», überlegte Babigna. «Ich brauche nur eine Tablette», sagte Giusep. «Alles andere: zu viel Aufwand.»
«Ich habe nichts bei mir zu Hause, was ich dir anbieten könnte. Aber im Schulhaus oben haben sie sicher etwas.»
Giusep sah sie überrascht an. Dass er nicht selber darauf gekommen war! In seinen Augen blitzte etwas auf. «Dann muss ich hoch», nickte er und wollte schon aus der Küche gehen.
«Meines Wissens hat dir dein Schwiegersohn ein Hausverbot erteilt», gab Babigna zu bedenken. «Das ist eine Ausnahme», hielt ihr Giusep entgegen.
«Ich kann dir die Tabletten holen», schlug sie vor. Giusep schüttelte den Kopf.
«Dafür wird mir Anton den Zutritt hoffentlich nicht verwehren. Und überhaupt: Ich kann ja draussen warten.»
«Tu, was du nicht lassen kannst», seufzte Babigna und wandte sich wieder der Spüle zu, um den Abwasch zu beenden.
Giusep stapfte die Fahrstrasse hinauf. Der Schnee war von den Kinderstiefeln der Schüler zertrampelt. An den steileren Stellen, wo sie auf dem Heimweg jeweils Rutschpartien machten, hatte es vereiste Bahnen, die er umgehen musste.
Er kam ins Schwitzen. Von der Anstrengung begann der Zahn in seinem Kiefer erneut heftig zu pochen. Es war, als hätte er einen fremden Organismus in seinem Körper. Der Zahn machte sich selbständig, er liess sich nicht länger in ein funktionierendes Ganzes einbinden, er begehrte auf nach all den Jahren, er verweigerte sich seinem Besitzer, er meuterte.
Giusep keuchte die Strasse hoch, ungeduldig, gehässig. Als Babigna das Schulhaus erwähnt hatte, standen plötzlich nicht mehr nur die Schmerzmittel im Vordergrund, die er dort er halten sollte. Da war auch unverhofft wieder die Möglichkeit, Anna zu sehen. Mitten im Elend des bohrenden Zahnschmerzes hatte sich ein heller Punkt geöffnet. Aber je länger er den Hang hinaufjapste, desto mehr kam er sich vor wie ein schlapper Hund. Das machte seine Wut nur noch grösser.
Folge 73
Er klatschte sich auf die schmerzende Wange, als könne er das Stechen und Wummern daraus verscheuchen. Besser wurde dadurch nichts. Im Gegenteil. Aus seiner Wut kroch stattdessen etwas Dunkles, Bösartiges hervor: Anna sehen? Wozu? Er war doch kein schüchterner Jüngling mehr! Warum sollte er sich auf die Augen beschränken, wenn er doch Hände hatte? Was gab es denn noch zu verlieren?
Endlich war er oben. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiss von der Stirn. Niemand war zu sehen. Er ging zu dem offenen Unterstand, der an einen kleinen Schopf angebaut war. Dort standen ein paar Schlitten, mit denen die Schüler ins Dorf hinunterrodelten nach dem Unterricht. Falls Anton ihn vom Fenster des Schulzimmers aus gesehen haben sollte, als er die Strasse hochkam, so würde es wohl nicht lange dauern, bis die Tür aufgehen und er Giusep höflich, aber kalt, den Heimweg weisen würde. Er wartete. Nichts geschah. Als er sich schon aus dem Unterstand hervorwagen wollte, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Jemand kam um die Hausecke gebogen, von unten her, wo der Turnplatz lag und sich der Kellereingang befand. Es war Anna.
Alles hatte Giusep erwartet, nur das nicht. Fieberhaft überlegte er, was er tun sollte. Die linke Hälfte seines Gehirns, in die der schmerzende Zahn seine Signale aussandte, schrie nach Medikamenten. Die rechte sagte, da ist Anna – Anna ist da!
Giusep entschied sich für Anna. Der Zahn konnte warten. Er verliess sein Versteck und eilte mit ausgreifenden Schritten über den Vorplatz, um Anna den Zugang zur Haustür abzuschneiden.
Sie blieb erschrocken stehen, mit offenem Mund, als ob sie schreien wollte, aber es kam kein Laut über ihre Lippen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde stand sie so. Sah, dass sie keine Chance hatte, zurück ins Haus zu fliehen. Dann drehte sie sich um und rannte davon, in Richtung Fahrweg, der zum Dorf hinunterführte. Ein aufgescheuchtes Wild, das dem Jäger ins Auge gesehen hatte. Die Häuser unten schirmten sich mit den Dächern ab, als wollten sie mit der Sache nichts zu tun haben. Von dort war keine Hilfe zu erwarten. Wo sollte sie hin? Sie lief über die Strasse hinaus und auf den Pfad, der über dem Dorf zur Schlucht hinüberführte, hinunter zur Mühle. Der Pfad wurde jeden Tag von den zwei, drei Schülern benutzt, die im Weiler auf der gegenüberliegenden Berglehne wohnten. So blieb die Spur trotz Neuschnee sichtbar.
Anna lief den Abdrücken der Kinderstiefel entlang. Sie wagte sich nicht umzuwenden, glaubte Giuseps Atem in ihrem Nacken zu spüren, meinte, seine Hände griffen bereits nach ihrem Rock. Erst als sie ausser Rufweite des Schulhauses war, hörte sie plötzlich Giusep, der ihr nachrief, sie solle stehen bleiben.
«Anna», rief er, «Anna, so warte doch!»
Erst da merkte sie, an der Entfernung der Stimme, dass er nicht unmittelbar hinter ihr war, dass sie einen kleinen Vorsprung hatte. Ihre Verzweiflung wurde dadurch nicht geringer. Sie musste die Schlucht hinunter, zur alten Mühle, sie musste die Sägerei erreichen. Dort war der Säger, dort gab es Möglichkeiten, sich zu verstecken. Nun warf sie doch einen Blick zurück. Giusep war keine fünfzig Meter hinter ihr. Aber er rannte nicht, wie sie gemeint hatte. Er kam nur mit ausgreifenden Schritten hinter ihr her, als hätte er es nicht besonders eilig. Als sei er sich seiner Beute sicher. Anna stolperte und fiel hin. Sie rappelte sich auf und wischte sich den Schnee aus dem Gesicht. Durch die nassen Wimpern erkannte sie, dass Giusep aufgeholt hatte. Sie hetzte weiter. Der Weg tauchte jetzt in den Wald ein, durch den die Schlucht verlief. Bald musste sich der Pfad verzweigen. Die Schuhabdrücke führten unbeirrt weiter zum Weiler hinüber, oberhalb der Schlucht. Hinunter gab es keine Spur. Anna wusste nicht mehr, wo Anton den Abstieg begonnen hatte. Es war ja Nacht gewesen damals. Sie trat neben die Spur und stieg zwischen den Bäumen den Hang hinunter, ins Weglose, wo Wurzelstöcke und Geröll aus dem Schnee ragten und das Fort kommen erschwerten.
«Clara, bleib stehen!», rief Giusep von oben. «Ich weiss, dass du es bist. Lauf nicht davon! Ich will dir nichts tun!»
Anna erschrak, als sie ihn den Namen seiner verstorbenen Frau rufen hörte. Sie rutschte aus und riss sich an einer scharfen Steinkante die Hand auf. Dürres Geäst zerkratzte ihr das Gesicht. Sie spürte es nicht.
Giuseps Ungeduld wuchs sich zu einer unheimlichen Wut aus. Clara hatte ihn verlassen, damals als sie starb. Ein zweites Mal würde er sie nicht entkommen lassen! Und der verdammte Zahn, pulsierend und pochend, trieb ihn zur Weissglut.
Clara hatte den Pfad, der hinunter zur Mühle führte, verpasst. Umso besser. Er sprang zwischen die Bäume, rannte, schlitterte und rutschte den Hang hinunter. Der Abstand zu der Flüchtenden verringerte sich jetzt zusehends.
Anna vernahm die Geräusche hinter sich, das Knacken und Schleifen, das Poltern von Steinen und Giuseps Flüche, die sich näherten. Sie suchte verzweifelt nach einem Weg, hielt Ausschau nach der Mühle, die doch bald auftauchen musste. Doch dann stand sie unvermittelt am Abgrund. Die Schlucht tat sich vor ihr auf. Sie blieb stehen. Hier führte kein Pfad mehr weiter.
Es blieb ihr keine Zeit mehr, ihr Verfolger war bereits auf zwei, drei Meter herangekommen. Er streckte die Arme nach ihr aus, seine Augen glühten. Jetzt hatte er sie!
Folge 74
In dem Augenblick, als seine Hände schon nach ihr greifen wollten, knickte er ein, das Knie, das ihm seit Langem zu schaffen machte, gab unter ihm nach.
Anna sprang erschrocken zur Seite, während Giusep an ihr vorbeistolperte, nur einen Schritt entfernt, und sich stürzend am Gebüsch zu halten versuchte, das über den schroffen Rand der Schlucht hinauswucherte. Mit einem gurgelnden Schrei fiel er, und Anna vernahm das dumpfe Aufschlagen des Körpers, der auf die Steinstufen prallte, einmal, zweimal, sie zählte nicht mit, bis er den Grund erreicht hatte, wo Eis zersplitterte und dann eine unheimliche Stille eintrat, nur unterbrochen vom eintönigen Gluckern des Wassers.
Anna war in den Schnee gesunken. Sie zitterte, sie schwitzte und fror. Und sie spürte, wie die Schuld zwischen den Bäumen auf sie zu geschlichen kam, ein anklagendes, trauriges Wesen, nicht Mensch, nicht Tier, in Lumpen gehüllt.
Erst nach Langem fand sie den Mut, sich aufzurichten und über den felsigen Rand der Schlucht in die Tiefe zu blicken. Giuseps Körper war ein Schatten unter anderen Schatten. Vom Gestein kaum zu unterscheiden. Aber die Art wie er dalag, war eine endgültige Antwort auf ihre Frage.
Sie hatte die Angst gesehen in seinen Augen, als er stürzte. Hier war die Geschichte zu Ende. Hier hörte alles auf.
«Ist Anna nicht da?», fragte Anton, als er nach Erledigung der Schularbeiten hinauf in die Wohnung kam.
Die Zimmer lagen im Dunkeln, die Fenster waren hellgraue Flecken. Er drehte den Lichtschalter. Barbla sass im Sessel in der Stube. Wahrscheinlich hatte sie vor sich hin gedöst.
«Wo ist Anna?», fragte er. Barbla schüttelte den Kopf.
«Was ist denn?»
Sie blickte ihn regungslos an.
«Ich sehe mal nach», sagte er.
Er ging die Treppe wieder hinunter und klopfte an Annas Tür. Nichts regte sich dahinter. Er drückte auf die Klinke. Die Tür war abgeschlossen. Er klopfte energischer.
«Anna!»
Er hörte, dass sie hustete. «Ich fühle mich nicht gut», sagte sie mit unsicherer Stimme. Es klang, als ob sie geweint hätte.
«Ich bringe dir später etwas zu essen», rief Anton durch die verschlossene Tür.
«Danke», antwortete sie, «aber ich mag nichts.»
Ich komme später nochmals», sagte er und stieg nach oben.
Es war nicht das erste Mal, dass sie nicht essen wollte, dass sie weinte. Die Vergangenheit holte sie immer wieder ein. Sie würde sich erholen. Morgen war ein neuer Tag.
Nach dem Essen brachte er Barbla zu Bett. Dann füllte er einen Teller mit Bratkartoffeln, schnitt Käse dazu, nahm auch die Teekanne mit und ging hinunter zu Anna. Er klopfte und wartete.
«Ja?», vernahm er ihre Stimme.
Jetzt war die Tür unverschlossen. Er trat ein. Auf dem Fensterbrett brannte eine Kerze. Anna sass in eine Decke gehüllt auf dem Bettrand.
Etwas war anders als sonst, wenn sie geweint hatte. Etwas stimmte nicht. Er stellte Teller und Teekanne auf den Tisch und setzte sich neben Anna aufs Bett. Das hatte er noch nie getan. Er bemerkte es erst, als er schon sass. Nicht einmal um Erlaubnis hatte er gefragt. Aber Anna reagierte nicht.
«Das Essen wird kalt», sagte er und deutete auf den Teller. Aber Anna schüttelte nur den Kopf. Er nahm ihre Hand und umschloss sie mit beiden Händen. Sie fühlte sich kalt an.
«Josef?», fragte er.
«Giusep», sagte sie tonlos.
«Was hat er wieder?», fuhr Anton auf.
Er machte eine abrupte Bewegung, als wollte er vom Bett aufspringen. Aber jetzt war es Anna, die seine Hand zurückhielt. «Er liegt unten in der Schlucht …»
Das Sprechen fiel ihr schwer. Es waren einzelne Wörter, die sie herauspresste, kein zusammenhängender Satz. Anton sah sie fassungslos an. Er schien nicht zu begreifen.
«Er ist …? Woher weisst du das?»
«Es ist alles meine Schuld», stiess Anna hervor.
In einer plötzlichen Aufwallung schleuderte sie die Decke weg, schlang die Arme um Anton und barg ihren Kopf an seiner Brust. Schluchzen schüttelte ihren Körper. Überrascht und erschrocken hielt auch er sie fest. Nach einer Weile wurde sie ruhiger. Er löste sich behutsam von ihr.
«Willst du mir berichten, was geschehen ist?»
Sie nickte schniefend. Er zog sein Taschentuch hervor und hielt es ihr hin. Sie trocknete die Tränen aus dem Gesicht und putzte sich die Nase. In diesem Augenblick kam sie ihm vor wie ein kleines Kind, das nur darauf gewartet hat, getröstet zu werden. Sie musste noch ein paar Mal schlucken und husten, bevor sie erzählen konnte, was sich ereignet hatte.
«Anna», sagte er, als sie geendet hatte, «dich trifft keine Schuld.»
Sie liess den Kopf hängen.
«Giusep kam nie über den Tod seiner Frau hinweg», sagte Anton. «Du hast ihn an sie erinnert. Er war ein alter Mann und hat da einiges durcheinandergebracht.»
Sie regte sich nicht. Er nahm ihren Kopf in beide Hände und hob ihr Gesicht empor.
«Anna, glaub mir, es ist nicht deine Schuld!»
Folge 75
Er sah ihre Augen, die dunkel waren bis an die Ränder hinaus. Ihr Gesicht, das noch nie so nah dem seinen gewesen war. Und plötzlich stieg das Bild des erhitzten Gesichtes auf, das Gesicht der Cousine, im Heustadel, die warmen Lippen, ihr Atem, der nach Himbeerbonbons roch. Er schreckte zurück – es war nicht Barblas Gesicht, es waren nicht Barblas Lippen. Aber das Dunkel der Augen breitete sich weiter aus, ohne Anfang, ohne Ende, wie ein See in der Nacht. Sie klammerten sich aneinander mit der ganzen Verzweiflung trauernder Menschen. Wenn alles verloren ist, gibt es nichts mehr zu verlieren. Und Mund presste sich auf Mund, Haut suchte Haut.
10
Anton stand am Fenster und rauchte. Er blickte den Schülern nach, die lärmend die Strasse hinuntereilten. Viel Zeit war vergangen. Der Krieg war vorbei, das Lachen zurückgekehrt ins Dorf. Vor einem Monat hatten die Glocken geläutet im ganzen Land, um den Frieden zu verkünden. Das Schulhaus stand noch am alten Ort, die Kirche, das Dorf waren unversehrt geblieben. Bis hierher war der Krieg nicht gekommen. Nur seine Ausläufer, die Nachrichten, die Flüchtlinge, die Angst. Es war vorbei.
Er sog an der Zigarette, als wäre sie ein Lebenselixier. An etwas so Vergängliches wie eine Zigarette wollte er sich klammern? Früher hatte er laut herausgelacht in solchen Momenten. Zynisch, verächtlich. Das wenigstens hatte er sich abgewöhnt. Hatte er sich das Leben anders vorgestellt? Hatte er es sich überhaupt vorgestellt? Oder war er einfach hineingerutscht, an einen Ort, zu Menschen, die er nicht selber ausgewählt hatte?
Neben ihm, auf der Fensterbank, lag der Brief. Er war am Morgen mit der Post gekommen. Der Absender war Anton unbekannt, die Namenskürzel wie auch die Anschrift, irgendeine Strasse in Zürich.
Erst als er den Zigarettenstummel ausgedrückt hatte, nahm er das Kuvert, zog dann den Papierbogen aus dem aufgeschlitzten Umschlag. Er faltete ihn auf und las wieder und wieder, was da geschrieben war. Das Blatt zitterte in seiner Hand. Er zündete sich eine weitere Zigarette an.
Babigna hatte sich weinend auf den toten Giusep gestürzt, als sie ihn damals ins Haus gebracht hatten am Tag danach.
Anton war den Pfad in die Schlucht hinabgeeilt und hatte Annas Spuren unkenntlich gemacht. Dann hatte er Alarm geschlagen und verbreitet, Giusep sei wohl verwirrt oder betrunken gewesen, als er vom Weg abgekommen war. Es war nicht einfach gewesen, die Leiche auf dem Grund der Schlucht zu bergen. Schnee und Eis waren gefährlich. Zwei Männer wurden abgeseilt. Der Tote war festgefroren und steif wie ein Brett. Sie hackten ihn frei, befestigten ihn am Seil, so dass die oben ihn hochziehen konnten. Einem Trauerzug gleich trugen sie ihn ins Dorf. Vorhänge hinter den Fenstern bewegten sich, wer auf der Strasse war, blieb stehen und nahm die Mütze vom Kopf.
«Das ist jetzt schon der zweite Kriegstote», mümmelte der alte Casutt, als die Männer an ihm vorbeischritten, und fingerte hilflos an seinem Hut.
«Red keinen Blödsinn!», fauchte ihn einer der Träger an.
Der Alte fuhr erschrocken zusammen. Er riss den Mund auf, dass man den einzigen Zahn sah, den er noch besass. Er schnappte nach Luft.
«Dich erwischt’s auch noch!», rief er dem anderen nach, aber der Wind zerriss seine brüchige Stimme in pfeifende Heuler.
Bevor sie ins Haus gingen, holte Anton eine Plane aus dem Schopf. Die breiteten sie in Giuseps Schlafkammer auf das Bett, bevor sie ihn hinlegten. Die Haut des Toten war mit Raureif bedeckt. Obwohl es kalt war im Zimmer, begannen die Eiskristalle zu schmelzen, und es sah aus, als liefen Giusep Tränen über das Gesicht.
Schliesslich zog Anton Babigna von dem Toten weg. Sie schnäuzte sich. Die Männer waren in die Küche gegangen.
Was war denn los?», fragte Anton.
«Ich weiss es nicht», sagte Babigna. «Er war so unruhig, ärgerlich, manchmal wütend. Nichts konnte man ihm recht machen.»
«War es, weil ich ihm das Haus verboten hatte?» Babigna nickte, aber dann schüttelte sie den Kopf.
«Er hatte schreckliche Zahnschmerzen», sagte sie. «Ganz wirr im Kopf war er davon. Er wusste vielleicht nicht mehr, was er tat.»
«Das glaube ich auch», sagte Anton.
Babigna begann wieder zu weinen. Er führte sie zu den anderen in die Küche.
«Die Männer haben schwere Arbeit geleistet», sagte er.
«Wir müssen ihnen etwas auf den Tisch stellen.»
Giusep Arquint war an einem Zahn gestorben. Der Schmerz musste ihn wahnsinnig gemacht haben.
«Das kommt vor», meinte Doktor Brunner, als er den Totenschein ausstellte, «das kommt vor. Ein Zahn, ein Mückenstich, eine Speckschwarte – wenn es so weit ist, braucht es nicht viel: Ratsch, und der Baum ist um.»
Ein Glück, dass Babigna ihn nicht hörte. Sie hätte ihm die Augen ausgekratzt. Sie war froh, dass jetzt viel Arbeit auf sie zukam. Das lenkte ab. Wie hätte sie es sonst aushalten sollen. Sie wusch den Toten, richtete ihn her, zog ihm die Sonntagskleider an. Anton half, wo sie Hilfe benötigte.
Am folgenden Tag stand Luzi da. Man hatte ihn aus der Untersuchungshaft entlassen, damit er seinem Vater das letzte Geleit geben konnte. Die Untersuchungen waren abgeschlossen, das Verfahren würde noch einige Zeit in Anspruch nehmen, aber da man ihm keine Fluchtgefahr attestierte, durfte er nach Hause.
Folge 76
Jemand musste den Hof weiterführen, das hatten auch die unten in der Kantonshauptstadt so gesehen. Und zurück in die Uniform wollten sie ihn vorläufig auch nicht stecken, ein potenzieller Totschläger war dort offensichtlich unerwünscht.
Giusep blieb drei Tage aufgebahrt in seinem Haus. Kondolenzbesuch kam, das halbe Dorf musste verköstigt werden. Babigna sank abends erschöpft ins Bett, auch wenn Luzi anpackte, wo er konnte.
Als sie Giusep hinauftrugen in die Kirche, flockte es leicht auf die dunklen Anzüge und Gewänder des Trauerzugs, wie um das Schwarz wenigstens zu einem lichten Grau aufzuhellen.
Anton, der einer der Sargträger war, musste achtgeben, dass er mit den anderen im Gleichschritt blieb. Seine Gedanken kreisten um denjenigen, den er jetzt auf den Schultern trug, den Vater seiner Frau, den er nie wirklich hatte einschätzen können. Der zu Dingen fähig gewesen war, die man ihm nie zugetraut hätte, im Guten nicht und schon gar nicht im Schlechten. Was hätte er Anna getan, wenn er sie eingeholt hätte? Anton mochte gar nicht daran denken. Hatte die letzte Tat nur in der Folge von früheren Ereignissen gestanden? Hatte Giusep die Polizei auf Anna angesetzt, um sie, wie er meinte, bei sich verstecken zu können? War er es gewesen, der ihr nachgestellt hatte, damals in der Kirche?
Anna war nicht unter den Leuten, die zum Kirchhügel hinaufschritten. Sie stand nicht an der Grube, die man mühevoll im gefrorenen Boden auf dem Friedhof ausgehoben hatte. Sie war krank und blieb im Schulhaus.
«Man sollte ein Gesetz erlassen, welches das Sterben im Winter verbietet», murrte einer der Totengräber, als sie zu zweit das Loch zuschaufelten.
Auch der Hügel mit der ausgehobenen Erde war bereits zu grossen Teilen hart und gefroren.
Nach der Trauerfeier hatten Luzi, Barbla und ihre beiden älteren Brüder, die hergereist waren, vor der Kirche die Beileidsbezeugungen der Dorfbewohner entgegengenommen. Barbla sass steif in ihrem Rollstuhl und liess alles über sich ergehen, als sei sie völlig unbeteiligt am Ereignis dieses Tages. Wer ihr die gesunde Hand schüttelte, konnte meinen, er habe irrtümlich die gelähmte angefasst. Viele reagierten irritiert und redeten daraufhin über Barblas Kopf hinweg mit Anton, der hinter ihr stand.
Auch Anton war sich nicht im Klaren, wie nahe Barbla der unerwartete Tod ihres Vaters ging, wie viel sie davon überhaupt mitbekommen hatte. Etwas war geschehen. Und Barbla musste es ahnen. Barbla wusste es. Es war nicht Giuseps Tod. Antons Fürsorglichkeit war auffällig. Aber er vermied es, ihr in die Augen zu blicken.
Langsam löste sich die Gemeinde auf und zog hinunter, Richtung Dorf, wo im Gasthof ein Imbiss auf die Trauergäste wartete. Der kleine Saal im «Crusch Alba» war bald gefüllt von Stimmen und Gläsergeklirr. Noch einmal wurde des Toten gedacht, dann langte man zu, froh, unter den Lebenden und wieder an der Wärme zu sitzen. Wein und Bier liessen Anekdoten über den Verstorbenen spriessen, und es kam nicht nur Heldenhaftes zum Vorschein. Immerhin, und darüber war man sich einig, hatte ihm keiner aus dem Dorf den Tod an den Hals gewünscht. Schon gar nicht auf diese Weise.
Beinahe hätte man im Saal das Rumpeln des Autos auf den Buckelsteinen des Dorfplatzes überhört. Ursina, die Frau vom Gemeindeschreiber Saluz, hatte ein Fenster geöffnet, weil der Qualm der Stumpen wie grauer Novembernebel unter der Decke hing. «Das war doch die Polizei», sagte sie erstaunt. «Was will die hier im Dorf?»
«Die Polizei?», fragten die Nächsten am Tisch. «Wo kommt die denn her?»
«Von oben, vom Schulhaus.»
«Man hat sie doch gar nicht hochfahren gesehen?»
«Vom Schulhaus, hast du gesagt?» Anton war aufgesprungen. Er eilte ans Fenster, aber der Wagen war nicht mehr zu sehen. Er wandte sich Ursina Saluz zu und griff nach ihrem Arm.
«Bist du sicher, dass es die Polizei war?»
«Du tust mir weh», beschwerte sich die Frau und machte sich los.
«Entschuldige», murmelte Anton beschämt.
«Ja, es war die Polizei», sagte sie und rieb sich den Arm. Aus Antons Gesicht war alle Farbe gewichen.
«Ich muss hoch», sagte er mit gepresster Stimme zu Babigna.
Er packte Kittel und Hut und eilte aus dem Saal. Die Kälte fuhr ihm ins Genick, als er aus der Wärme des Gasthauses auf die Strasse trat. Aber es dauerte nicht lange, so brach ihm der Schweiss aus, während er den Hang hinaufrannte. Er verfluchte Giusep, dessen Tod in irgendeinem Zusammenhang stehen musste mit dem Erscheinen der Polizei. Oder war es völlig anders, als er dachte? Tat er ihm unrecht? Hatte Giusep etwa dafür gesorgt, dass Anna nicht behelligt worden war – und jetzt war der Beschützer ausgeschaltet?
Seine Gedanken verwirrten sich, er stolperte den Fahrweg hinauf und rang nach Atem.
Die Tür war nicht abgeschlossen. Er öffnete sie, trat in die kleine Eingangshalle und horchte. Aber er vernahm nur seinen eigenen, schweren Atem. Und das Blut, das in den Schläfen pochte. Einen Augenblick blieb er stehen.
Folge 77
Annas Tür war nur angelehnt. Das war nicht ihre Art. Er machte die paar Schritte bis zur Schwelle. Eigentlich war alles klar. Er wusste, was ihn erwartete. Das Bild, das sich ihm bot, als er die Tür aufstiess, bestätigte es nur. Das Zimmer war leer. Einzig das zerknüllte Bett deutete darauf hin, dass hier jemand gewohnt hatte.
Die nachfolgenden Tage waren lichtlos und grau gewesen. Sie hatten sich zusammengeballt zu einer undurchdringlichen Wand, die Anton vom Leben trennte. Er wusste nur noch, dass er verzweifelt Polizei und Amtsstellen angerufen hatte, um etwas über Annas Verbleib zu erfahren. Dass man ihm jegliche Auskunft verweigert hatte. Und dass ihm die Ortsstelle dringend geraten hatte, von weiteren Nachforschungen abzusehen. Man würde plötzlich Fragen stellen oder stellen müssen, die für den Anrufenden kompromittierende Folgen haben könnten.
«Was wollen Sie damit sagen?», fragte Anton aufgebracht.
«Verstecken einer Person fremder Nationalität ohne Auf enthaltsgenehmigung», dozierte der Beamte.
«Und?»
«Sie scheinen nicht gerade sehr fantasiebegabt zu sein – was glauben Sie, passiert mit einem straffälligen Lehrer?»
Zuerst hatte er noch gehofft, Anna würde sich irgendwann melden. Ihn bei den Behörden angeben als Bezugsperson. Vielleicht sogar zurückkehren. Aber die Wochen vergingen, die Monate, der Krieg weitete sich auf ganz Europa aus, und schliesslich betete er nur noch darum, dass sie nicht über die Grenze zurückgestellt worden war. Er vertraute es dem Rauch der Zigaretten an, der aus dem Schulstubenfenster über den Pausenhof zu den Lärchen wehte und sich auf dem Weg dorthin Kringel um Kringel auflöste. Er schickte es mit dem schwindenden Licht hinauf zu den Graten, zum Piz Malört und all den anderen Spitzen. In die Kirche setzte er keinen Fuss mehr.
Als er Barbla gesagt hatte, Anna sei weg, sie hätten sie geholt, war langsam eine einzelne Träne aus ihrem rechten Auge gequollen. Er hatte gesehen, wie sie über die Wange hinunter rann, in die Falte neben dem Mund, und dann unter dem Kinn verschwunden war. Er hatte es gesehen, aber er hatte nichts unternommen. Vielleicht war ihr auch nur das Auge übergelaufen, wie es das häufig tat.
Obschon nichts mehr so gewesen war wie zuvor, war der Alltag zurückgekehrt. Anton gab Unterricht, Babigna kümmerte sich um Barbla. Luzi war freigesprochen worden, hatte den Hof übernommen und ging Caviezel in der Sägerei zur Hand. Die Jahreszeiten wechselten unverändert, nur dass man jetzt vom Kriegswinter und vom Kriegssommer sprach. Ab und zu gelang jemand die Flucht über den Pass, aber alle gingen sie am Schulhaus vorbei, möglichst rasch hinunter ins Tal und weiter.
Wenn der Nebel dicht wurde und an die Grundmauern des Schulhauses wogte, wenn man nicht einmal mehr die Dächer des Dorfes sah, war es, als ob das Haus eine Insel wäre. Anton stand morgens am Fenster und wartete, dass die ersten Schüler aus dem Nebel auftauchten, ihre Konturen, die sich aus dem Nichts zu formen schienen. Erst wenn sie die Tür öffneten und er ihre Schritte, ihr Schwatzen hörte, war er sicher, dass sie lebendig waren und nicht nur Schatten, die er sich eingebildet hatte. Am späten Nachmittag verschluckte der Nebel sie wieder, lösten sie sich auf, als hätte es sie nie gegeben.
Dann wurde die Stille gross wie ein mächtiges Tier, das irgendwo im Verborgenen atmete. Bis er realisierte, dass das, was er als Stille empfand, das Zusammenspiel war von unzähligen kleinen Geräuschen, von denen keines das andere zu verdrängen suchte.
Es hatte weitere Tote gegeben. Nicht nur draussen in der Welt, wo sie zu Millionen starben, in diesem unvorstellbaren Gemetzel, in dem der Tod seine Individualität verloren hatte.
Manchmal fragte sich Anton, was er hier tat, warum er nicht dort war, draussen, bei den anderen, und am Rand einer Grube darauf wartete, dass ihm in den Kopf geschossen würde. Dann musste er nach der Flasche greifen, die er unten in der Kammer neben der Schulstube versteckt hatte. Für ihn war es immer noch Annas Zimmer.
Es spielte keine Rolle, dass sein Atem nach Schnaps stank. Barbla hatte sich von ihm abgewendet. Der Alltag war zurückgekehrt, aber nur in den täglichen Handlungen, in dem, was getan werden musste. Seit Annas Verschwinden war ihre Gemeinschaft zerbrochen. Seit jener Nacht, in der Anna und er sich nahegekommen waren, um genau zu sein. Von diesem Augenblick an hatte Barbla begonnen, sich zurückzuziehen, sich einzuspinnen in eine undurchdringliche Hülle, deren Schichten von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr zugenommen hatten.
Er erinnerte sich an einen Morgen, als der Regen die Buckelsteine frisch gewaschen hatte. Der gepflasterte Hof glänzte verheissungsvoll in der Sonne. Da schien ihm, es müsse doch möglich sein, diesen Kokon nochmals aufzubrechen.
Aber an diesem Morgen kam ein Anruf aus der Stadt. Sein Vater hatte einen weiteren Herzinfarkt erlitten und war in der Nacht gestorben. Es war, als verzerrte sich die Sonne auf den Buckelsteinen zu einem hämischen Grinsen.
Folge 78
Wieder fuhr er durch die Tunnel hindurch, durch das Helle und das Dunkle. Mutter erschien ihm noch kleiner als zuvor, geschrumpft, unsicher auf den kurzen Beinen und verhärmt vom Weinen.
Er versuchte zu trösten, wo es keinen Trost gab. Eigentlich war er froh, dass die Mutter in ihrer eigenen Trauer wie in einem zu weiten Mantel versank, so entging ihr vielleicht, dass er, noch ohne Fähigkeit, um den Vater zu trauern, sie nicht auffangen konnte.
Er rief den Bruder an, telefonierte mit Ämtern und dem Bestatter. Er ging mit der Mutter ins Krankenhaus, wo der Tote im Kellergeschoss aufgebahrt blieb, bis das Bestattungsunternehmen ihn abholen würde.
Das Gesicht des Vaters war nicht entspannt, wie er es erwartet hatte. Und es war irgendwie breiter geworden, abgeflacht. Wahrscheinlich hatte er starke Schmerzen gehabt bis zuletzt. Der Arzt, mit dem Anton später noch sprechen konnte, bestätigte dies. «Wir taten unser Möglichstes», sagte er. «Herzliches Beileid.»
«Danke», sagte Anton. «Ich zweifle nicht daran.»
«Vielleicht trotzdem das bessere Los als für manchen da draussen», fügte er leise hinzu, dass die Mutter es nicht hören konnte.
Der Arzt blickte ihn erstaunt an. Dann nickte er fast unmerklich und kniff die Lippen zusammen.
Am Abend traf auch der Bruder ein. Sie schliefen, seltsam genug, wie früher im selben Zimmer. Sie hatten eine Flasche Wein aus Vaters Keller geholt, einen leichten Herrschäftler, obwohl die Mutter gefunden hatte, das gehöre sich nicht, jetzt Wein zu trinken. «Wir trinken auf Vater», sagte Antons Bruder, «er hätte sicher nichts dagegen.»
Der Wein löste ihre Zungen, und sie redeten später in der Dunkelheit des Zimmers, wie sie es seit Jahren nicht mehr getan hatten. Für einige Stunden schien das Band wieder straff und sicher, das in den vergangenen Jahren immer lockerer und unverbindlicher geworden war.
Anton blieb bis nach der Beerdigung bei der Mutter. Sie war wie ein kleines Kind, das nicht ohne ständige Betreuung sein konnte. Er rief zu Hause an und bei Saluz, dessen Frau ab und zu Schulunterricht gab, wenn er verhindert oder krank war.
Wenn die Trauerfeier vorbei war, würde die Mutter mit Unterstützung der Nachbarn wieder auf eigenen Füssen stehen müssen. Sie würde das schaffen. Sie musste das schaffen.
Er bot ihr nicht an, zu ihm hinaufzuziehen ins Schulhaus im Hochtal. Vielleicht hätte sie das auch gar nicht gewollt. Und zum jüngeren Sohn in die Grossstadt? Da hätte wohl die Schwägerin auch noch ein Wort mitgeredet.
Nein, die Mutter hatte ihr ganzes Leben hier verbracht. Sie für die restlichen Jahre an einen ihr völlig fremden Ort zu verpflanzen, würde sie nicht verkraften.
So legte sich Anton diese Sache zurecht. Damit er sein schlechtes Gewissen besänftigen konnte. Mit seinem Bruder sprach er gar nicht erst darüber. Dessen Antwort kannte er.
«Wenn du glaubst, das tun zu müssen …»
Dann war er wieder oben auf dem Schulhof gestanden und hatte die Knaben im Turnunterricht an den Kletterstangen hochgeschickt. «Los, los! Ihr verfault mir sonst noch in der Schulstube!» Wer wie ein Sack an der Stange hing und keinen Meter zwischen sich und den Sandboden brachte, den kniff er in die Waden.
«Siehst du, geht doch!», grinste er, wenn der Gepikste nach oben zu fliehen versuchte.
«Wer’s nicht bis nach oben schafft, macht nach dem Aufstehen jeden Morgen zwanzig Liegestützen», forderte er.
«Rossschinder!», murrten ein paar. Sie wagten nicht, es laut zu sagen, dem Spott preisgegeben, wie sie eh schon waren.
Auch Anton lachte. Es war kein bösartiges Lachen, eher ein Schmunzeln. Aber bei den Erwachsenen konnte man nie sicher sein. Auch beim Lehrer nicht. So rasch sein Gesicht sich mit Lachfalten überzog, so rasch erstarrte es auch wieder, und in seinen Blick trat etwas Fremdes, Abwesendes, als nehme er nicht mehr wahr, was um ihn her geschah.
«Blickt er wieder nach innen», sagten die im Dorf, wenn die Kinder davon berichteten.
«Er hat’s ja auch schwer mit seiner Frau», sagten die, welche Barblas Versteinerung mitbekommen hatten.
Und im «Crusch Alba» fragte darauf ein Spassvogel: »Mit welcher?»
Aber kaum einer mochte darüber lachen. Die Jüdin, ja, die von drüben, vom Vorarlbergischen. Wer wusste, was da genau geschehen war. Und reden darüber wollten sie eigentlich nicht mehr.
«Komm doch wieder einmal unter die Leute», forderte der eine oder andere Anton auf.
Anton schüttelte nur den Kopf. Er trank lieber allein. In seiner Stube störte ihn niemand dabei.
«Willst du enden wie dein Schwiegervater?», hielt ihm Babigna vor, die längst gemerkt hatte, wo er den Schnaps versteckte.
«Ich habe keine Zahnschmerzen», antwortete er.
«Das wäre zumindest etwas Reelles», sagte sie.
Er schwieg. Mit ihm liess sich nicht streiten. Er hiess nicht Giusep.
Oft war Anton abends spät noch in der Kammer neben der Schulstube gesessen und hatte getrunken.
Folge 79
Nein, er stürzte die Gläser nicht hinunter, und er trank nicht bis zur Besinnungslosigkeit. Er wollte nur dorthin gelangen, wo er Anna auf dem Bettrand sitzen sah, wo er Giusep zutrinken und ihm verzeihen konnte. Und er wollte dorthin gelangen, wo Barbla ihm vergab, dass er sie verraten hatte. Denn das hatte er doch.
Im wirklichen Leben konnte sie ihm das nicht verzeihen. Und hatte er nicht auch an Anna Verrat geübt? War er nicht so schwach gewesen, dass er ihre Schwäche ausgenützt hatte? Nie hätte er in früheren Jahren gedacht, dass er, der staatlich berufene Erzieher künftiger Generationen, zu solch niederen Handlungen fähig sein könnte. Dass er die ihm am nächsten Stehenden bis ins Innerste verletzen und enttäuschen würde. Vielleicht also am meisten sich selbst?
Wenn er nicht trinken würde, müsste er sich verachten. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Wenn er getrunken hatte, erschienen ihre geschönten Gestalten, und sie verziehen ihm. Dann musste er sich nur noch dafür schämen, dass er zum Trinker geworden war.
Das Glück suchte jetzt andere Häuser auf. Luzi erhielt zwar wieder ein Aufgebot, in den Militärdienst einzurücken, und musste zusehen, wie der Hof während seiner Abwesenheit geführt wurde. Aber es gab noch ein zweites Aufgebot, ein erfreulicheres, für ihn und Madlaina. Sie heirateten bald nach Ablauf der Trauerzeit um den Vater.
Als Madlaina zu Luzi ins Haus zog, heulte Babigna Rotz und Wasser.
«Wer hat denn gesagt, dass du nicht mehr kommen kannst?», sagte Luzi.
«Diesem Haus habe ich kein Glück gebracht», schniefte sie. «Jetzt kommt Madlainas Zeit, die meine ist um.»
«Ach was, Madlaina ist doch froh um deine Hilfe! Sie wird ja vorläufig noch im ‹Crusch Alba› weiterarbeiten.»
Babigna schüttelte den Kopf.
«Und wenn mal Kinder kommen, ist ja sonst keine Gross mutter da», versuchte Luzi sie aufzumuntern.
«Meinst du?»
Luzi nickte ernst. Sie wischte sich über das nasse Gesicht.
Das war im Sommer des dritten Kriegsjahres gewesen.
Im vierten Kriegswinter erlitt Barbla völlig unerwartet einen zweiten Hirnschlag. Oder das Herz hatte plötzlich versagt. Man hatte immer damit rechnen müssen, die Ärzte hatten nie eine genauere Prognose zu stellen gewagt. Nun waren Jahre darüber vergangen, und auch der eingeschränkte Alltag mit der Behinderung war auf seine Weise zu einer Selbstverständlichkeit geworden.
Anton hatte sie gefunden, als er eines Spätnachmittags nach Schulschluss nach oben gekommen war. Barbla lag im Schlafzimmer am Boden. Zuerst meinte er, sie sei nur gestürzt und habe sich ohne Hilfe nicht mehr aufrichten können. Aber dann stellte er fest, dass ihre Haut ungewöhnlich kühl war, und er konnte keinen Pulsschlag mehr fühlen. Wahrscheinlich hatte sie sich unwohl gefühlt und sich hinlegen wollen.
Er kauerte neben der Toten, als drücke ihm jemand ein schweres Gewicht in den Nacken. Er sah, was geschehen sein musste und begriff doch nichts. Erst als ihn die Knie zu schmerzen begannen, war es, als erwache er. Er hob Barbla auf und legte sie auf das Bett. Ihr Körper war leicht wie ein Vogel, sie hatte kaum mehr etwas gegessen. Er faltete ihre Hände, wie es der Brauch war. Er sah, dass das Auge auf der gelähmten Seite noch offen stand und schloss behutsam das Lid.
Er holte eine Kerze und stellte sie auf den Nachttisch. Beim Anzünden zitterte seine Hand. Schatten flackerten über Barblas Gesicht, über die Zimmerdecke. Im ersten Augenblick glaubte er eine Bewegung in ihrem Gesicht wahrgenommen zu haben. Aber es war das Auf und Ab von Hell und Dunkel im Schein der unruhigen Flamme. Eine Weile stand er so und betrachtete das vom Feuer bewegte Gesicht.
Es war Barbla, und sie war es nicht. Sie war gegangen und hatte ihm die Hülle dagelassen, diesen Kokon, in dem sie gefangen gewesen war, in den sie sich eingeschlossen hatte. Zögernd streckte er die Hand aus, um ihre Stirn zu berühren. Eine seltsame Furcht überkam ihn, es war, als steige eine lähmende Kälte von ihr auf, die ihn hemm te, die Bewegung zu Ende zu führen.
Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, verbarg sein Gesicht in den Händen und merkte nicht, dass sie nass wurden. Hatte er nicht schon einmal gemeint, jetzt gebe es nichts mehr zu verlieren? Er erinnerte sich wieder an die Wanderung hinauf zur Seenplatte, damals als er Barbla noch seine Gämse nannte, ein lachendes, lebendiges Wesen, das aus unerfindlichen Gründen beschlossen hatte, sein Leben mit ihm zu verbringen.
Er dachte an das Blau der Seen, die von oben wie glitzernde Augen ausgesehen hatten. Er erinnerte sich, wie sie sich eine Schar lebhafter Kinder ausgedacht hatten, kleine Barblas, kleine Antons und bunt gemischte Eigenschaften beider Elternteile, die zu Wirbelwinden und stillen Denkern geführt hätten. Und dann hatten sie sich mit den Schulkindern begnügen müssen.
Schliesslich erinnerte er sich auch an den Augenblick, als der Hirnblitz Barblas Leben, und damit auch das seine, aus der scheinbar vorgespurten Bahn hinausgeschleudert hatte.
Folge 80
Wie ein heimtückischer, abgebrochener Ast, den man nicht beachtet hatte auf dem Weg, der zwischen die Speichen des Rads geriet und einen zu Fall brachte.
Das Leben, meinen wir, sei alles. Dabei ist es der Tod. Er ist das Ziel. Das Leben ist nur sein Vorspiel.
Er erinnerte sich nicht mehr, wo er das gelesen hatte. Bei Tschechow jedenfalls nicht.
Er verdrängte die Gedanken daran. Er wollte sich auf das Schöne besinnen. Nur noch das Schöne. An den Abend, als er Barbla zu Bett bringen wollte und ungeschickt über sie stürzte, dass sie aufeinanderzuliegen kamen wie früher, in diesen Momenten glücklicher Übereinstimmung und Nähe. Aber dann war es nicht Barblas Körper, den er sah, sondern der von Anna. Er konnte sich nicht mehr deutlich an das Zusammensein mit Barbla erinnern. Annas Körper schob sich dazwischen.
Er wollte das nicht. Nicht hier und nicht jetzt. Es war falsch. Zu lange hatte er unten gesessen in Annas Kammer, seit sie verschwunden war. Er hasste Anna. In diesem Augenblick konnte er nicht anders, als sie zu hassen. Sie hatte kein Recht, sich zwischen ihn und Barbla zu stellen. Nicht jetzt. Er hasste den Tag, an dem sie über den Pass gekommen war. Und er hasste diesen erbarmungslosen Gott, der sich in der Kirche barmherzig nennen liess.
Die Nacht tropfte in langen Stunden von der dicken Kerze. Anton sass bei seiner verstorbenen Frau und hielt Totenwache.
Um Stalingrad tobten die Schlachten. Was spielte es jetzt noch für eine Rolle, ob der Krieg auch hierherkam?
Erst als der Morgen dämmerte, stand er auf, erschöpft, zerschlagen, und rief Babigna an und Doktor Brunner.
Anton legte Brief und Umschlag auf das Fensterbrett. Er nahm eine neue Zigarette aus der Packung und steckte sie an. Es war gegen seine Gewohnheit, aber heute reichte eine einzelne nicht. Immerhin hatte er sich das Trinken wieder abgewöhnt. Als alles vorbei gewesen war, und Barbla bei ihren Eltern auf dem kleinen Friedhof hinter der Kirche lag, hatte Babigna eines Abends auf ihn gewartet. Sie war nicht mehr ins Schulhaus gekommen seit Barblas Tod.
«Ich kann nicht», hatte sie gesagt, «es schmerzt mich zu sehr.»
Anton hatte das verstanden.
«Ich komme zurecht», hatte er sie beruhigt. «Mach dir um mich keine Sorgen.»
Babigna sah schlecht aus. Barblas Tod schien ihr noch immer sehr nahezugehen. Sie war bleich, ihre Wangen waren eingefallen, und die Augen lagen dunkel in ihren Höhlen. Es fiel ihm auf, dass ihre Hände zitterten, diese bisher so ruhigen und zielsicher greifenden Hände.
«Was ist geschehen?», fragte er und ging ihr voran die Treppe hinauf.
Babigna antwortete nicht. Sie rang nach Atem und hustete, dass er schon fürchtete, sie würde die Treppe nicht schaffen. Er öffnete die Tür zur Wohnung, machte Licht und ging in die Küche.
«Willst du Tee?», fragte er.
Sie war in der Tür stehen geblieben und schüttelte den Kopf.
«Setz dich doch», forderte er sie auf.
Er setzte Wasser auf, gab Teeblätter in den Krug und setzte sich zu ihr an den Tisch. Im Licht der Küchenlampe sah er, dass ihre Augen gerötet waren. Er griff nach ihrer Hand.
«Was ist mit dir?»
Sie entzog ihm ihre Hand und nestelte ein Taschentuch hervor, das sie presste und knetete, als sei das der Gegenstand, den man zum Sprechen bringen müsse. Sie wagte nicht, Anton in die Augen zu blicken.
«Ich war’s», brachte sie schliesslich mühsam über die Lippen.
«Du warst was?»
«Ich habe Anna gemeldet damals …»
Anton starrte sie an. Sein Mund öffnete und schloss sich, tonlos.
«Nein», sagte er nach einer Weile. «Nein!» Babigna sank in sich zusammen.
«Warum? Sag mir, warum!» Er schrie es beinahe.
«Entschuldige», sagte er, als er sah, wie sie zitterte.
«Ich konnte nicht anders», sagte Babigna. «Ich konnte nicht länger zusehen, wie alles kaputtging. Derungs hatte sterben müssen. Luzi war ins Gefängnis gekommen. Und Giusep …»
Ein Schluchzen schüttelte sie.
«Aber Anna konnte doch nichts dafür», sagte Anton.
«Nein», schniefte Babigna, «Anna traf keine Schuld. Aber sie war die Ursache. Man kann nicht überall Brände löschen, ohne die Ursache auszuschalten.»
Das Wasser in der Pfanne brodelte, und der Deckel begann zu scheppern. Anton stand auf, schaltete die Herdplatte aus und füllte die Teekanne. Er ging ans Fenster und wartete, dass sie weitersprach.
Babigna war auch die unsichtbare Person in der Kirche gewesen. Sie hatte den diffamierenden Zettel hingehängt.
Sie hatte Anna aus dem Dorf zu treiben versucht, wollte, dass sie freiwillig ging und das Feld räumte.
Denn Giusep, dem sie seit Jahren den Haushalt geführt hatte, der nie auch nur laut darüber nachgedacht hatte, sie zu heiraten – Giusep hatte nach Annas Auftauchen nur noch Augen für die Junge gehabt.
Folge 81
Er hatte Babigna gestanden, dass er das hinterhältige Spiel mit der Polizei inszeniert hatte, damals als Anna ein paar Tage unten in der alten Mühle hatte ausharren müssen.
Allerdings hatte er gehofft, Anna bei sich verstecken zu können. Als aber Anton nicht auf sein Angebot eingegangen war, hatte er eingesehen, dass es vielleicht zu auffällig gewesen wäre. Und so hatte er das Spiel zu Ende spielen müssen, auch wenn es schliesslich niemand etwas nützte.
Kurz vor seinem Tod war er unausstehlich geworden. Er hatte kein gutes Wort mehr für sie gehabt, hatte nur noch Anna im Kopf und wie er ihr an den Rock könnte. Tatenlos habe sie zusehen müssen, wie er von Tag zu Tag tiefer im Sumpf seiner Besessenheit versunken sei. Bis er in der Schlucht zu Tode gestürzt war.
«Ich war ausser mir», sagte Babigna leise. «Ich war wie er, nur mit entgegengesetzten Vorzeichen. Anna war schuld, sie hatte mir Giusep genommen.»
Anton wandte sich um und kam an den Tisch. Zum ersten Mal blickte Babigna ihn an. Er sah die glühende Eifersucht in ihren Augen.
«Du wärst nicht glücklich geworden mit ihm», sagte er.
«Du weisst das. Man kann das Glück nicht zwingen.»
Babigna senkte den Kopf wieder. Er dachte daran, ihr die Wahrheit zu erzählen über Giuseps Tod. Aber das würde ihr nicht helfen. Im Gegenteil.
«Was wirst du jetzt tun?», fragte sie ängstlich. Er hob die Schultern.
«Ich weiss es nicht. Bei Gott und all den Toten, Babigna, ich weiss es nicht.»
Als er schon die Glut an den Lippen spürte, drückte er den Zigarettenstummel im Blumentopf aus. Er nahm den Brief, faltete ihn und steckte ihn in den Umschlag zurück. Er blickte auf den Absender. Er hatte sich keinen Reim machen können auf dieses A und dieses G. Dass Anna einmal ihren ursprünglichen Familiennamen, Gruber, erwähnt hatte, daran erinnerte er sich erst, als er den Inhalt gelesen hatte. Der Inhalt? Ein paar wenige Zeilen. Und am Schluss dieser einzelne Satz.
Möchtest du deine Tochter kennenlernen?
Er hob den Blick. Das Licht stand kurz vor der Reise. Wenn es hinter den Grat sank und die Dämmerung aus dem Grund des Tals emporstieg, so wusste man doch, dass es im nächsten Tal noch einen Augenblick zögerte, bevor es sich lautlos über einen weiteren Kamm davonstahl. Von Tal zu Tal, von Grat zu Grat, bis die Bergketten sich ausdünnten, hinausliefen über sanfte Hügelzüge in das offene, weite, flache Land.
Dort, so stellte er sich vor, verweilte das Licht noch lange, bis es, immer längere Schatten hinter sich herziehend, über das Meer enteilte, durch die Dunkelheit einem neuen Morgen entgegen.
Er schloss das Fenster.
Ende
Die Folgen 1 bis 29 des Romans finden Sie an dieser Stelle: «Das Licht hinter den Bergen» 1 – 29
Die Folgen 30 bis 59 des Romans finden Sie an dieser Stelle: «Das Licht hinter den Bergen» 30 – 59
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