Kunstwerke aus der Psychiatrie
Das Kunstmuseum Thun zeigt in seiner neusten Ausstellung «Extraordinaire!» Werke von psychisch Kranken.

«Seither immer im Bett.Ist ruhig und zufrieden, wenn er nur zeichnen kann.» Dies trug ein Arzt 1918 in die Krankenakte eines psychisch Kranken ein. Zitate von Patienten und Medizinern ziehen sich durch die gesamte Ausstellung «Extraordinaire! Unbekannte Werke aus psychiatrischen Einrichtungen in der Schweiz um 1900», die im KunstmuseumThun zu sehen ist.
Die Schau basiert auf einem Forschungsprojekt der Zürcher Hochschule der Künste, das alle in kantonalen Kliniken der Schweiz entstandenenWerke erfasste. In Thun wird eine Auswahl von 80 Arbeiten aus 10 verschiedenen Kliniken gezeigt.
Kollektiv statt individuell
Warum waren Patienten künstlerisch tätig? Gab es Sammlungen? Solchen Fragen ging die Forschungsbeauftragte Katrin Luchsinger nach. Es habe zwar Psychiater wie Morgenthaler oder Rorschach gegeben, die sich für die Bildproduktion ihrer Patientinnen und Patienten interessierten, aber Kunst als Therapieform existierte nicht, sagt Katrin Luchsinger. «Man setzte auf Arbeitstherapie.» Riesige, unfreiwillig zusammengewürfelte Kollektive seien die Anstalten gewesen.
Scherenschnitte, Holzschiffe, Gehäkeltes und auf Packpapier Gekritzeltes: Die Kunst der Patienten hat viele Gesichter. Gertrud Schwyzer (1886–1970) beispielsweise hatte in München die Kunstakademie besucht, bevor sie einen Zusammenbruch erlitt.
Von ihr erhalten sind 4100 Blätter. Mit Wasserfarbe malte sie Hände in schwarzen Handschuhen und andere teils rätselhafte Motive. Konrad B. (1873–1949) dagegen kam in eine Anstalt aufgrund seiner Schwerhörigkeit.
«Der Mann war vielleicht gar nicht geisteskrank», erklärt Luchsinger. Konrad B. gebärdete sich wohl aggressiv, weil niemand ihn verstand. Er zeichnete mit Bleistift regelmässige Ornamente von Inseraten auf Packpapier ab.
Fantasievolle Utopien schuf hingegen Franz Sch.(1898–1977). Der einstige technische Zeichner gestaltete zahlreiche Pläne, die ein Zusammenleben ohne Konkurrenz darstellen.
Auch Häuser für Kultur sah er in seinen Plänen vor. Viele der Patientinnen widmeten sich eher der Handarbeit als dem Zeichnen. Deshalb seien viele ihrer Werke nicht mehr vorhanden, da man Textilarbeiten nicht in die Patientenakten stecken konnte, sagt Katrin Luchsinger. Erhalten sind jedoch die faszinierenden Häkelarbeiten von Lina Cécile Colliot Schafter (1867–1937).
Gehäkelt hat die in der Waldau lebende Jurassierin etwa einen Leichenwagen oder einen «Fauteuil de distraction» – einen Sessel der Ablenkung. Es sind kleine Objekte, die in ihrer Sonderbarkeit faszinieren, aber auch etwas Beklemmendes ausstrahlen. Wie sah es in dieser Frau drinnen aus, die Langeweile, Einsamkeit und die Angst vor dem Tod mit der Produktion dieser Miniaturen bannte?
Gebückter Flamingo
Auch in der zweiten Ausstellung drückt sich eine geplagte Seele aus. Nur ist es hier keine anonymisierte Insassin einer Anstalt, sondern die bekannte Amerikanerin Ida Applebroog, die Einblick gewährt. Die 1929 in New York geborene Künstlerin erlitt Anfang der 70er-Jahre einen Nervenzusammenbruch.
Einer ihrer Assistenten entdeckte 2009 im Estrich eine Schachtel mit vergessenen Bildern, die Applebroog während ihres Klinikaufenthalts geschaffen hatte. In der Werkserie «Mercy Hospital» (1969) zeichnete Applebroog mit Tusche, Tinte und Aquarellfarben gegen ihre Depression an.
Oft sind es organische Formen die das in sich selbst verschlossene Sein der Patientin offenbaren. Macht- und Genderfragen sowie die weibliche Sexualität sind Leitmotive in ihrem Werk. Thun bereitet ihr die erste Einzelausstellung in der Schweiz. Selbst anreisen konnte die bald 90 Werdende nicht.
Nichts an Kraft eingebüsst hat aber ihre Kunst. In ihrer aktuellen Serie «Angry Birds ofAmerica» (2018) bringt sie ihren Zorn über die Trump-Regierung zum Ausdruck. Ikonenhaft hat sie verschiedene Vögel auf Folie gedruckt. Ein Flamingo geht gebückt, eine Eule – Symbol der Weisheit – ist tot.
Die Ausstellung «Extraordinaire!» beginnt am Samstag und dauert bis zum 19. Mai im Kunstmuseum Thun. Anschliessend werden die Werke im Kunstmuseum im österreichischen Linz zu sehen sein.
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