Jeder Vierte darf nach Deutschland
Rom, Berlin und Paris werben in Europa für einen systematischen Verteilungsmodus für Flüchtlinge. Mitmachen wollen wohl nur wenige.

Im Hotspot von Lampedusa ringen sie plötzlich mit Kapazitätsnöten. Es gibt da 95 Plätze für Neuankömmlinge, für Flüchtlinge also, die in Libyen oder Tunesien abgelegt hatten, das zentrale Mittelmeer überquerten und jetzt auf der kleinen italienischen Insel identifiziert werden sollen. Nun aber sind in dem Auffanglager 240 Menschen untergebracht, so gut es eben geht.
Auch in Kalabrien, auf Sardinien und Sizilien landen wieder mehr Migranten an, in den letzten drei Tagen waren es 300. Alle setzten an Bord kleiner Boote über – «autonom», wie die Italiener sagen. Sie wurden also nicht auf halber Flucht von privaten Hilfsorganisationen oder von der Küstenwache aus Seenot gerettet. Der September, das ist bereits klar, ist der erste Monat in diesem Jahr, in dem die Zahl der Ankömmlinge im Vergleich höher ist als im Vorjahr. Nur eine kleine Trendwende, die vielleicht meteorologische Gründe hat. Politisch ist sie höchst brisant.
Salvini jubelt schon
Italien hat erst seit einigen Tagen eine neue, eher linke Regierung, sie ist zusammengesetzt aus Cinque Stelle und Sozialdemokraten. Und der ist viel daran gelegen, dass der ehemals starke Mann in Rom, der selbstverschuldet gestürzte Innenminister und Vizepremier Matteo Salvini von der rechten Lega, möglichst nicht vermisst wird. Wenn jetzt aber über Nacht wieder mehr Migranten nach Italien kommen, liefert das Salvini viel Stoff für seine Propaganda. «Schande», twittert er, «die Häfen sind wieder offen.»
Technisch stimmt das zwar nicht: Auch die neue Regierung lässt Rettungsschiffe nur dann einlaufen, wenn sich genügend europäische Länder finden lassen, die bereit sind, je einen Teil der Passagiere bei sich aufzunehmen. Ausserdem kamen auch während der Amtszeit Salvinis ständig Migranten mit sogenannten Geisterschiffen an, die unter dem Radar durchgingen, auch unter dem medialen. Schlagzeilen machten jeweils nur die Hafenschliessungen und die Kraftproben des Rechtspolitikers mit den Seenotrettern.
Frankreich ist dagegen, dass auch mal ein Schiff mit Flüchtlingen nach Marseille gelotst wird.
Wenn nun aber ausgerechnet kurz nach Salvinis Sturz mehr Flüchtlinge anlegen, könnten sich manche denken, der Regierungswechsel sei daran schuld, er schaffe Anreize. Natürlich wäre das fatal. Salvinis Gunst im Volk, die während der Sommerkrise geschrumpft ist, würde bald wieder stark zulegen. Seine Lega ist bei Umfragen noch immer die stärkste Partei im Land.
Werben um Solidarität
Deshalb wirbt Giuseppe Conte, der alte und neue Premier, mit viel Leidenschaft für mehr europäische Solidarität bei der Verwaltung der Migrationsflüsse und hofft dabei vor allem auf die wichtigsten Partnerstaaten, auf Deutschland und Frankreich. Berlin und Paris haben ihm mehr oder weniger konkret Hilfe zugesagt – freiwillig gewissermassen, als Teil einer Koalition der Willigen, um Italien zu entlasten. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer nannte vergangene Woche eine genaue Quote: 25 Prozent. Deutschland sei bereit, jeden vierten Migranten, der im zentralen Mittelmeer aus Seenot gerettet werde, bei sich aufzunehmen. Das trug ihm auch Kritik aus dem eigenen politischen Lager ein.
Automatisch – aber wie?
Ziel der drei Länder und von Malta ist es, den Ad-hoc-Verteilungsmodus, der bisher bei jeder Anlandung mühsamst und mit tausend Telefonaten umgesetzt wurde, einigermassen zu automatisieren. Am kommenden Montag, beim Migrationsgipfel von fünf EU-Innenministern in Malta, will man die Idee besprechen. Noch sind aber viele zentrale Fragen offen.
Sollen nur Kriegsflüchtlinge verteilt werden, wie die Franzosen es wollen, oder auch Wirtschaftsflüchtlinge? Wo wird entschieden, welcher Ankömmling ein Recht hat, umgesiedelt zu werden: noch an Bord oder erst an Land? Und wer entscheidet das? Ist es möglich, dass die Anlegehäfen am Mittelmeer in Zukunft rotieren, damit nicht immer die nahegelegensten sicheren Häfen angesteuert werden? Die Franzosen sind dagegen, dass auch mal ein Schiff etwa nach Marseille gelotst wird. Ausserdem ist Frankreich nur bereit, Menschen aufzunehmen, die aus Seenot gerettet worden sind. Das jedenfalls ist der Stand nach Emmanuel Macrons Besuch diese Woche in Rom. Es war eine Art Aussöhnungsvisite, nachdem sich die alte Regierung – und Salvini im Speziellen – davor vierzehn Monate lang mit dem Elysée gestritten hatte.
Die Italiener hofften, der französische Präsident würde eine Quote für die Übernahme von Migranten nennen. Doch Macron beliess es bei vagen Zugeständnissen. Was zählte, war das gute Klima. Durch die neue Regierung in Rom gebe es jetzt «ein Zeitfenster der Möglichkeiten», in dem auch eine Grundsatzreform des Dublin-Systems verhandelt werden könne, sagte Macron, der schon lange für neue europäische Regeln plädiert.
Da mag es verwundern, dass er gleichzeitig einen Rechtsruck in der Asylpolitik einleitet – innenpolitisch. In einer Rede vor Mitgliedern seiner Partei La République en Marche (LREM) sagte er am Montag, dass er «das einfache Volk» stärker schützen wolle, das «mit der Einwanderung leben müsse». Man sei «oftmals zu lasch unter dem Vorwand, humanistisch zu sein». Macron stellte weiter fest, dass vor allen Dingen die weniger einkommensstarken Schichten seine rechtsradikale Konkurrentin Marine Le Pen wählen.
Die EU schaut zu
Mit seiner neuen Strategie, sich «dem Thema der Migration zu stellen», will Macron Le Pen in genau dem Bereich angreifen, in dem sie die radikalsten Positionen vertritt: bei der Einwanderung. Schon jetzt regt sich Protest innerhalb des linken Flügels von LREM, fünfzehn Abgeordnete haben sich öffentlich für eine «menschenfreundliche Einwanderungspolitik» starkgemacht. Zum neuen Kurs passt, dass Macron nur Menschen an einem allfälligen Verteilungsmechanismus teilhaben lassen möchte, die ein Anrecht auf Asyl haben. Und für die «schnellere Rückführung» sogenannter Wirtschaftsmigranten fordert er «europäische Mittel».
In Brüssel wird jedes Statement aus Paris, Berlin und Rom sehr aufmerksam registriert, denn in diesen Kapitalen fallen die Entscheidungen. Die EU wohnt der Debatte gewissermassen von aussen bei. Doch der Abgang Salvinis hat in Brüssel die Hoffnung geweckt, dass der «Neustart» in der Migrationspolitik, wie ihn die designierte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ankündigte, auch tatsächlich gelingen kann. Auf strukturelle Änderungen pochen viele Länder, und nicht alle schicken Emissäre nach Malta. Da und dort wird die Sorge laut, dass eine kurzfristige Lösung, wie sie nun die «Willigen» ins Auge fassen, einen grösseren Wurf in der Frage erschweren könnte. Ein möglicher Deal auf Malta, so finden etliche Regierungen, wäre nur ein Anfang, danach müsse es erst richtig losgehen.
Ist das zu optimistisch? Polen und Ungarn zum Beispiel blockieren konstant. Und in Spanien muss schon bald neu gewählt werden, was einen grossen Reformelan ebenfalls hemmt. Das Zeitfenster mag gerade günstig sein. Lange bleibt es aber wohl nicht offen.
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