
In Italien, das ja weiss Gott nicht arm ist an eigenen Dichtern und Denkern, zitieren sie gerade William Shakespeare: «Viel Lärm um nichts.» Für einmal ist der oft bemühte Titel der Komödie passend, auch wenn die Geschichte höchstens anekdotisch komisch ist. Zu berichten ist von einem spektakulären und beruhigenden Flop.
Das kleine, aber sehr laute Volk italienischer Impfgegner und Impfskeptiker, der sogenannten «No Vax», wollte 54 Bahnhöfe blockieren, das ganze Land lahmlegen, um so gegen die zum 1. September ausgeweitete Pflicht des Green Pass im überregionalen öffentlichen Verkehr zu protestieren. Mobilisiert hatten sie in einer Chatgruppe auf dem Nachrichtendienst Telegram mit dem ominösen Namen: «Basta dittatura!» Mitglieder: 40’000.
Die ganze Palette obskurer Argumente
Wenn wir schon nicht reisen dürfen, hiess es da, soll niemand reisen. Diese Zertifikatspflicht sei eine Form der «Apartheid». Der Green Pass, sagen sie, mache sie zu Sklaven eines angeblich übergriffigen Staates, von «Big Pharma» und einer Weltelite mit boshaften Plänen für die Menschheit – alles da, die ganze Palette obskurer Argumente. Die rechtsextremen Parteien Forza Nuova und Casa Pound begleiten die Bewegung mit ihrem trüben Repertoire an Gesten und unglückseligen Vergleichen. Längst nicht zur Freude aller «No Vax», aber sie sind nun mal oft dabei und gerne bereit zu Gewalt.
Im italienischen Innenministerium war man deshalb nach den jüngsten Prügelattacken und Todesdrohungen gegen Journalisten, Minister und Virologen dermassen besorgt, dass schon in der Nacht vor der geplanten Grossaktion Polizisten in und vor den Bahnhöfen postiert wurden, auch etliche in Zivil.

Nun, zum Termin erschien dann fast niemand, buchstäblich. In Neapel zum Beispiel standen zwei Männer mittleren Alters in der Bahnhofhalle und schwenkten die Trikolore. In Rom Tiburtina übertraf die Zahl der Polizisten und Reporter in geradezu grotesker Weise jene der «No Vax». Er habe sich an einem Kongress des Presseverbands gewähnt, schrieb der Berichterstatter der Zeitung «Il Foglio». Und in Milano Centrale wollten sich zwei Dutzend theatralisch echauffierte Demonstranten Zugang zum Bahnsteig verschaffen: Die Beamten lächelten ihren Versuch einfach weg.
Viel Lärm um nichts? Ist das Phänomen am Ende vor allem ein virtuelles, aufgeblasen von «Löwen der Tastatur», wie die Italiener zu den Hatern und Krawallanten im Netz sagen?
An den Universitäten müssen alle den Green Pass zeigen, Professoren und Studenten.
Tatsächlich ist der Green Pass ein grosser Erfolg, begrüsst von einer überwältigenden Mehrheit der Italiener. Man reist jetzt wieder leichtherziger, wenn man weiss, dass an Bord der Züge, Fähren, Flugzeuge und Langstreckenbusse nur noch Passagiere sitzen, die sich vor dem Einsteigen als geimpft, genesen oder wenigstens als frisch getestet ausweisen konnten. Schon seit drei Wochen gilt die Ausweispflicht für Restaurantsäle, für Theater, Kinos, Museen, für Schwimmbäder, Fitnesscenter und Fussballstadien. Wahrscheinlich wird nicht immer überall ganz genau kontrolliert, aber fast. Und wenn die Schulen ihren Betrieb in zwei Wochen wieder voll aufnehmen, gilt die Zertifikatspflicht auch für das gesamte Schulpersonal. An den Universitäten müssen alle den Green Pass zeigen, Professoren und Studenten. Bald könnte die Massnahme auf die grosse Schar der Staatsbeamten ausgeweitet werden. Italiens Premier Mario Draghi jedenfalls drängt darauf.
Quer stellen sich nur die Rechtspopulisten und die Postfaschisten, Lega und Fratelli d’Italia – und auch sie nur ein bisschen. Ihre Leader Matteo Salvini und Giorgia Meloni haben sich impfen lassen. Beide Parteien streiten sich aber mit ambivalenten Parolen um die Gunst und die Stimmen der «No Vax», von denen niemand weiss, wie viele es wirklich sind. Sehr viele können es nicht sein.
Impfpflicht durch die Hintertür? Ach was!
70 Prozent der Italienerinnen und Italiener sind nämlich bereits doppelt geimpft, bald werden es 80 Prozent sein. Und bis zu 90 Prozent sagen in Umfragen, dass sie sich gegen das Coronavirus impfen lassen wollen. Nirgendwo in Europa ist der Zuspruch grösser als im sonst gar nicht so impffreudigen Italien. Gut möglich, dass die Einführung des Green Pass einige Millionen Zögerer zum rascheren Impfen bewogen hat. Das ist keine unbotmässige Impfpflicht durch die Hintertür, wie es immer wieder heisst, nur eine nachdrückliche Einladung in eine neue, immer noch sehr relative Normalität.
Der grosse Impfzuspruch der Italiener liegt natürlich auch daran, dass diese Pandemie ihr Land besonders früh und dramatisch getroffen hat. Nach dem erfreulichen Flop der «No Vax» lässt sich die stille Mehrheit wohl auch nicht mehr so schnell von der krawallierenden Minderheit beeindrucken.
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Gegen die Diktatur der Minderheit – Italiener sehen die Zertifikatspflicht als Segen
Der ausgeweitete Green Pass ist im Land hochpopulär. Das zeigt auch der erstaunliche Flop der Impfgegner und Impfskeptiker.