Grosses Theaterum den Kohl
Ende der 50er-Jahre, ich war damals etwa 9 Jahre alt, lebten wir in einer Mietwohnung im Thuner Schönauquartier. Meine Grossmutter wohnte im Dürrenast, auf der anderen Stadtseite. Dank ihres Gartens konnte sie ihre Verwandten und Bekannten mit Obst und Gemüse versorgen.

Ich liebte die Kirschen und die Aprikosen, aber Rot-, Weiss-, Blumen- und Rosenkohl hasste ich. Mein Magen rebellierte schon, wenn die Gabel mit dem Zeug darauf noch zehn Zentimeter von meinem Mund entfernt war. Das gab immer ein grosses Theater. «Wie kann man nur so blöd tun, das ist doch das Beste, was es gibt», sagten meine Eltern und ergänzten, wie gesund dieses Gemüse doch sei und wie dankbar man sein müsse, so etwas Feines geschenkt zu bekommen. Wenn die Mutter der Grossmutter ihre Wünsche durchgegeben hatte, wurde ich jeweils losgeschickt, um die Früchte und das Gemüse zu holen. Zu Fuss dauerte ein Weg eine halbe Stunde. Bei der Grossmutter gab es immer einen Sirup und manchmal ein selbst gemachtes Guezli. Danach machte ich mich auf den Heimweg. Dieser führte durch eine Allee. Dort machte ich hinter meinem Lieblingsbaum halt und untersuchte die «Geschenke». Hatte es Früchte dabei, probierte ich sie sofort. War Rosenkohl darunter, portionierte ich ihn. Ich überlegte, wie viele von diesen grünen Kugeln die Eltern essen würden. Von dieser Zahl zog ich etwas ab, bis es fast zu wenig Kohl für alle hatte. So würde Mutter nicht auf die Idee kommen, mich zum Probieren zu zwingen. Den Rest warf ich weg. Eines Abends, als Grossmutter wieder einmal anrief, um die Bestellung aufzunehmen, hörte ich, wie meine Mutter sagte: «Du kannst schon mehr mitgeben, wir haben immer zu wenig!» Nun war guter Rat teuer. Doch das Problem löste sich von alleine. Als ich mich weigerte, Kohl zu essen, wurde ich ohne Essen ins Bett gesteckt. Später sang ich im Bett. Meine Eltern merkten, dass dies eher ein Vergnügen als eine Strafe war. Von da an liess man mich mit Kohl in Ruhe. Hans Lüthi, Matzendorf
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