Eine Oase für Menschen im Abseits
Zwei mal pro Woche öffnet die Kirchliche Gassenarbeit ihre Garage. Bruce erhält ein zweites paar Turnschuhe, sein Hund etwas zu essen. Maria bringt ihre Gedanken zu Papier und Tina hat dank den Gassenarbeitern noch alle zehn Finger.

Die Handvoll Menschen, die in der Garage der Kirchlichen Gassenarbeit beisammensitzen, scheinen trotz ihrer Probleme glücklich zu sein. Zumindest für den Moment. Zwar flucht der 39-jährige Bruce*, als müsste er in einem Gasthof den Stammtisch ganz alleine unterhalten. Doch dass ihm die anderen dabei zuhören, scheint ihm gut zu tun.
«Ich habe nichts zu essen, nicht einmal für den Hund. Deshalb bin ich hier. Hier erhalte ich Nahrung. Und ich kann im Internet eine Alphütte suchen. Es war schon immer mein Traum, in Abgeschiedenheit zu leben. Ich möchte einfach Ruhe haben. Ein paar Stunden am Tag kann ich unter Menschen sein, das geht, aber dann brauche ich Ruhe, sonst drehe ich im Rad. Ich mag nicht wieder in die Waldau. Ich war schon einmal dort, nach der Scheidung, nachdem ich Amok gelaufen war.
Aus meiner Wohnung im Liebefeld musste ich raus, sie wurde total saniert. Dank der Kirchlichen Gassenarbeit kam ich verdammt schnell zu einer neuen Loge. Ich brauche keine Luxuswohnung. Ich bin froh, habe ich wieder ein Dach über dem Kopf.
Im Moment holze ich tagsüber im Wald. Ich arbeite eine Busse ab, alternativer Strafvollzug. Das ist besser als Knast. Im Wald finde ich Ruhe. Die Kleider sind ein Problem. Ich habe nur, was ich gerade trage.»Bruce
In einer Ecke der Garage steht ein Ständer mit gespendeten Kleidern, darunter eine Kiste mit Turnschuhen, daraus grübelt Bruce ein ihm passendes Paar. Während er redet, legt die 49-jährige Tina Pullover zusammen. Tina trägt Schmuck – Ketten, Armbänder und Tattoos am Arm.
«Vor zehn Jahren lernte ich die Gassenarbeit durch Mundpropaganda kennen. Da könne man Kleider holen, wurde mir gesagt. Später hat mir diese Institution das Leben gerettet. Meine Hände waren voller Fingerringe. Wenn diese nicht abgenommen worden wären von einem Herrn Doktor, einer Koryphäe, wohlgemerkt, mir die Gassenarbeiterin kein Taxi bezahlt hätte und mich nicht reingesetzt hätte, dann wären die Finger in der Insel geblieben. So aber blieb nur der Schmuck dort.
Die Gassenarbeit ist weltswichtig, nicht nur für mich, sondern auch für viele Menschen, die sie erst noch kennen lernen. Ich komme immer wieder. Es sei denn, ich bin gerade weg, im Gefängnis oder im Spital. Momentan wohne ich in der Stadt Bern, das muss als Angabe reichen. Mein Zuhause ist die ganze Stadt.» Tina
Seit zehn Minuten erst ist die Garage im Nordquartier an diesem Donnerstagnachmittag geöffnet. Alle drei Angestellten der Gassenarbeit, sechs Klienten und zwei Hunde sind bereits da. «Wir lassen alle Menschen rein», sagt Gassenarbeiterin Isa Calvo. «Obdachlose, Leute mit Suchtproblemen, Jugendliche, Alleinerziehende und Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben.» Häufig bringen die Leute von der Gasse andere Leute von der Gasse mit. «Hier muss sich niemand ausweisen. Wir arbeiten niederschwellig, akzeptierend, parteilich und aufsuchend.»
Es gibt Getränke und ein Zvieri. Den Klienten wird zugehört, sie werden beraten, und das Team knüpft auf Wunsch Kontakte zu Sozialdiensten, Spitälern, Entzugskliniken und Ämtern. Internet und Telefon sind gratis benutzbar. «Das Angebot wird rege benutzt», sagt Calvo. Im Moment sitzt der 28-jährige Marco* hinter dem PC-Monitor.
«Ich lebe auf dem Bauwagenplatz der Stadtnomaden beim Wankdorf. Aber eigentlich besetze ich hauptberuflich Häuser. Ich habe zwar Maurer gelernt, und ab und zu arbeite ich temporär. Aber so, wie ich lebe, braucht man kaum Geld.
Da ich weder Sozialhilfe noch Arbeitslosenentschädigung beziehe, habe ich keinen Soz-Arbeiter oder RAV-Betreuer. Was Ähnliches finde ich hier bei der Gassenarbeit. Ich erhalte diverse Betreuung, wenn ich administrativ etwas machen muss oder wenn ich mal Probleme mit Gerichtssachen habe oder so. Jetzt erledige ich gerade ein paar Dinge für die Streuererklärung. Manchmal komm ich nur zum Reden, etwa wenns mir scheisse geht. Marco
Auf dem Tisch brennt eine Kerze. Die Leute, die rundherum sitzen, unterhalten sich über die Bands, die am Solidaritätsfest in der Reitschule auftreten werden. Der 45-jährige Sam* ist extra aufgetaucht, weil er gehört habe, dass ein Journalist hier aufkreuze. «Ich will in der Zeitung unbedingt ein bisschen Werbung machen für die Gassenarbeit.»
«Schliesslich hat Gassenarbeiter Walo Wenger auch mir schon geholfen. Er kam dreimal mit aufs Sozialamt. Wenn ich alleine dorthin gehe, dann werde ich auseinandergenommen. Wenn aber Walo Wenger mitkommt (mein Begleitschutz, sag ich dem), finden die Beamten ganz andere Umgangsformen.
Als die Sozialhilfe zum ersten Mal meinen Beitrag gestrichen hatte, bin ich bei der Gassenarbeit gelandet. Die meisten Leute kannte ich bereits, denn ich hatte zwölf Jahre lang ein Atelier in der Reitschule. Als Bühnenbildner und Eisenplastiker arbeite ich noch immer.» Sam
Jeden Dienstag ist das Büro für Frauen reserviert. Sie produzieren viermal pro Jahr die Zeitschrift «Mascara». Das Wort bedeutet Schminke. «Das Magazin bietet den Frauen eine Plattform, um ihre Gefühle und Wünsche auszudrücken», sagt Calvo.
«Vor vielen Jahren begann ich, auf der Schreibmaschine fürs ‹Mascara› zu schreiben. Wir haben alles selber kopiert und zusammengeheftet und auch gleich den Versand gemacht. Im ‹Mascara› deponiere ich die Sachen, die mich bewegen oder plagen. Ich schreibe auch zu Hause. Mit 53 Jahren wird meine Handschrift immer schludriger, deshalb kaufte ich einem Studenten einen Laptop ab. Ich beziehe eine IV-Rente. Ich wohne im Haus Felsenau, wo ich in einem Nähatelier arbeite. Nähen ist mein zweites Hobby.» Maria
*Namen der Redaktion bekannt
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch