Chaos mit den Buchstaben«Ein SMS zu schreiben, braucht Überwindung»
Claudia Fässler aus Niederönz hat Mühe mit Lesen und Schreiben. Sie will sensibilisieren und betont: «An jeder Schwäche kann gearbeitet werden.»

Manchmal gehe ich in die Bibliothek in Herzogenbuchsee, laufe durch die Regale und stöbere nach Büchern. Aktuell lese ich das Buch «Sag mir, was Liebe ist». Ein Buch muss mich packen, sonst habe ich keine Chance. Ich brauche lange, um eine Seite zu lesen, ich muss mich extrem konzentrieren, nichts darf mich ablenken. Auch so passiert es: Gedanken kommen, nehmen immer mehr Platz in meinem Kopf ein. Am Schluss bleibt die Frage: Was habe ich gelesen?
Dass ich beim Lesen und Schreiben so grosse Mühe habe, nervt mich. Das war aber schon immer so. Ich bin in Appenzell aufgewachsen, habe den Kindergarten besucht und in der ersten Klasse kamen die Probleme. Ich konnte nicht mithalten mit den anderen. Wenn wir einen Aufsatz schreiben mussten, brauchte ich viel mehr Zeit. Ich hatte mein ganz eigenes Tempo. Die erste Klasse musste ich wiederholen, dann wurde ich in die Kleinklasse verlegt. Die Lehrerin hat meinen Schulgschpäänli gesagt, dass sie froh sei, dass ich verlegt worden sei. Das hat mich getroffen.
Eine Freundin von mir aus der Sonderschule schaffte nach der Primarschule den Absprung in die Realklasse. Ich war neidisch auf sie. Ihre Familie unterstützte sie. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Lange Zeit wusste ich nicht, was ich nach der Schule machen sollte. Wahrscheinlich etwas Handwerkliches, dachte ich mir, Floristin oder so. Ich habe dann ein Haushaltslehrjahr gemacht, arbeitete in einer Reinigungsfirma und machte eine Anlehre als Pferdewartin.
«Manchmal denke ich mir, dass es schade ist, dass ich das alles nachholen muss, während andere Zeit haben, sich weiterzuentwickeln.»
Mit 28 Jahren ging ich nach Engelberg, arbeitete im Hotel Europe. Dort lernte ich meinen jetzigen Freund kennen, der in der Küche des Betriebs arbeitete. Er hat mich so angenommen, wie ich bin – mit meinen Schwächen. Er hat mir gezeigt, dass ich ein Umfeld brauche, das mich unterstützt. Seit vier Jahren wohnen wir in Niederönz, haben einen Hund. Einen Job habe ich hier nicht gefunden.
Ich bekomme Geld von der Invalidenversicherung, arbeite in der geschützten Werkstatt in der Bewo Oberburg. Dort fülle ich mal Öl ab, packe mal Gemüse ein, die Aufträge sind vielseitig und unterscheiden sich. Es gefällt mir sehr, ich fühle mich wohl dort. Auch weil ich dort von Leuten umgeben bin, die mich verstehen. Wir sind uns unserer Schwächen bewusst, sie sind präsent – aber eigentlich hat jeder Mensch Schwächen.
Ein Video auf der Onlineplattform 20minuten.ch hat mich dann wachgerüttelt. Ein Herr hat dort erklärt, dass ihm das Schreiben und Lesen schwer falle, dass es aber nie zu spät sei, sich Hilfe zu holen. Er bestätigte, was ich schon länger vermutete: Ich bin, wie viele Leute in der Schweiz, von Illettrismus betroffen.
Seit einem halben Jahr besuche ich nun wöchentlich einen Kurs, bei dem wir das Lesen und Schreiben neu lernen. Wir lesen Texte und bekommen Verständnisfragen gestellt. Wenn ich mich intensiv damit beschäftige, am Ball bleibe, merke ich, dass ich Fortschritte machen kann. Manchmal denke ich mir, dass es schade ist, dass ich das alles nachholen muss, während andere Zeit haben, sich weiterzubilden. Trotzdem bin ich froh, dass ich nochmals eine solche Chance bekomme. Ein Ziel von mir ist, wieder in den ersten Arbeitsmarkt reinzukommen.
Oft braucht es für mich Überwindung, dass ich jemandem mit dem Smartphone ein SMS schreibe. Ich habe Angst, dass jemand einen Fehler entdecken könnte und ich ertappt werde. Viel lieber verschicke ich deshalb Sprachnachrichten oder telefoniere. Für die Leute, die Mühe mit Schreiben und Lesen haben, wünsche ich mir mehr Verständnis. Ich ärgere mich, wenn mir die Leute die Zeit nicht geben, die ich halt einfach brauche, wenn ich mir etwas aufschreiben will oder ich etwas lesen muss.
Ich sehe mich deshalb als Botschafterin und rate dazu, sich seiner Schwächen bewusst zu werden, den Mut zu haben, sich Hilfe zu suchen. Denn an jeder Schwäche kann gearbeitet werden.
Die Serie «Aus meinem Alltag»
In unserer Serie «Aus meinem Alltag» kommen Leserinnen und Leser zu Wort, deren Alltag sich etwas anders gestaltet. Etwa wegen einer besonderen Gabe oder einer Einschränkung. Wollen auch Sie von Ihren Erfahrungen erzählen? Dann melden Sie sich bei uns. Schreiben Sie eine Mail an: redaktion@bernerzeitung.ch (Vermerk: «Aus meinem Alltag»). Bitte geben Sie Ihren vollständigen Namen, Ihren Wohnort und Ihre Telefonnummer an. Wir nehmen gerne mit Ihnen Kontakt auf.
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