«Die Schulkinder leben voller Angst»
Jennifer Clement, Autorenverband-Präsidentin, erhielt schon Morddrohungen, wenn sie für ihre Romane recherchierte. Im jüngsten, «Gun Love», geht es um die Waffenwut in den USA.

Eben verabschiedete das US-Repräsentantenhaus neue Gesetze: Alle Neukäufer von Handfeuerwaffen sollen überprüft werden; und das darf zehn Tage dauern. Eine Minimalforderung, doch Republikaner schreien auf.
Ist das nicht irre? Auf jedes offizielle Papier wie einen Pass muss man länger warten. Ist ein Waffenerwerb derart dringlich, wirft das doch Fragen auf! Leider zeigt die Geschichte, dass so ein Waffengesetz – das sich die Mehrheit der Amerikaner wünscht – kaum einen republikanischen Senat passiert. Trotzdem muss man es versuchen. Immer wieder. Für die kommenden Generationen.
Für die Kinder?
Die Kinder in den USA, auch meine Neffen und Nichten, müssen in der Schule «Lockdown Drills» durchziehen: Sie lernen, wo und wie sie sich bei einem Amoklauf am besten verbarrikadieren. Die Schulkinder leben voller Angst. Ein Neffe musste üben, sich so an die Wand zu pressen, dass man ihn nicht durchs Fenster erspäht. Wie kann man das okay finden? Ich verstehe das nicht. Oder doch: Ich habe viel zur National Rifle Association geforscht, mit NRA-Vertretern gesprochen und mit Massakerüberlebenden. Allein an Trumps Wahlkampagne zahlte die NRA direkt über 11 Millionen Dollar, indirekt ein Vielfaches. Offenbar untersucht Sonderermittler Robert Mueller derzeit die heikle Verbindung.
Was wäre zu tun?
Man müsste endlich das Geld per Gesetz aus der Politik entfernen. Aber daran scheiterten schon viele. Man würde meinen, ein Massaker wie in Parkland, Florida, sei ein Wendepunkt; oder das Las-Vegas-Massaker, der Amoklauf an der Sandy-Hook-Primarschule. Was muss noch passieren? Ich war nach Parkland am «Marsch für unsere Leben» in Washington und sah dort ein kleines Mädchen mit dem Schild: «Eine Schusswaffe hat mehr Rechte als ich.» Stimmt.
Ihr Roman «Gun Love», in dem ein kranker Waffennarr grundlos eine mittellose Mutter niedermäht und deren Tochter ihr Zuhause verliert, erschien kurz nach der Parkland-Tragödie. Er spielt in Florida.
Die Publikation zu genau dem Zeitpunkt war unheimlich, das Buch hatte ich ja ein Jahr vorher fertig. Florida hat zwar eines der laxesten Waffengesetze, aber ausgesucht habe ich den Bundesstaat, weil ich den Geist des erloschenen Timucua-Volks im Roman verankern wollte. Kein Eingeborenenvolk konnte sich je gegen die Feuerwaffenbesitzer behaupten, weder in Afrika noch in Indien oder den USA. Die Timucua versanken mit dem Siegeszug der Weissen in Florida. Ihr Geist spiegelt sich etwa in der Romanheldin wider: Pearl, ein sehr weisshäutiger Teenie in einer verratzten Wohnwagen-Siedlung, ist empathisch hochbegabt: Sie hört die Geschichten in allem, auch die der Waffen.
Die Waffen erzählen Storys?
Es war vertrackt, Pearls Kindlichkeit und den poetischen Ton mit dem Thema – die waffenstarrende Welt in den USA – zu verschränken. Auf diese märchenhafte Weise gings. Entstanden ist fast eine Ballade, voller Musik, vom Kinderlied bis Rachmaninow. Ich beleuchte via Pearl und ihre Nachbarn im Trailer-Park (die sie samt einer Ladung Waffen nach Mexiko schmuggeln) die Armut in den USA, die nicht funktionierenden Sozialwerke, die latente Frauenfeindlichkeit. Und verfolge dabei mein brennendstes Anliegen.
Welches?
Das Bewusstsein zu wecken für die Waffenschieberei: Über 20000 Feuerwaffen gehen täglich von den USA nach Mexiko und Zentralamerika. 70 Prozent der an mexikanischen Tatorten konfiszierten Waffen kamen über die USA ins Land. Laut aktuellen Studien wären knapp die Hälfte aller US-Waffenhändler ohne solche Verkäufe pleite. Aber die, die am lautesten über die Flüchtlinge jammern, die zur US-Grenze marschieren, um Armut und Gewalt zu entkommen, verschliessen die Augen davor, dass diese Fluchtbewegung von US-Waffen befeuert wird. Buchstäblich. Die Flüchtlingstrecks zählen zu den Effekten des 2. Zusatzartikels zur US-Verfassung: Er erlaubt dem Volk den Besitz und das Tragen von Waffen – und hat den Waffenhandel leicht gemacht.
Befürworten Sie eine Mauer zwischen Mexiko und den USA – gegen den Waffenschmuggel nach Süden?
Sehr gute Frage! (lacht) Die Mauer ist ein trauriger Witz. Wie Trump, dessen Wahl die Mexikaner entsetzte, bis sie ihn zum Trost zur Lachnummer degradierten. Furchtbar, dass seine Wiederwahl möglich scheint. Ein Klimakämpfer als Präsident täte not. Ursprünglich stammt die Grenzbefestigung von Präsident Clinton, er nannte sie «Zaun». Was Trump jetzt noch machen will, hat nichts mit echter Notwendigkeit zu tun, das sagt jeder Experte. Aber niemand spricht über die Waffenflut nach Süden.
«Ich will das Bewusstsein wecken für die Waffenschieberei.»
Müsste dann nicht Mexiko die Einfuhr kontrollieren?
Allerdings! Aber in Mexiko herrschen Korruption und Gesetzlosigkeit: eine Tragödie. Ich sprach auch mit Grenzwächtern: In die Richtung Mexiko wird nicht kontrolliert, haben sie mir bestätigt; obwohl man ohne Erlaubnis keine Waffen ins Land bringen darf. Die Ursachen der Krise in Lateinamerika sind Überbevölkerung und Armut, auch der Drogenkonsum in den USA. Ich wuchs als Amerikanerin in Mexiko auf und stelle fest, dass sich die Lage in den letzten Jahrzehnten ständig verschlimmerte. Es entwickelte sich auch ein brutaler Mädchenhandel. Die 7-, 8-jährigen Mädchen in Guerrero müssen sich als Jungen verkleiden, in Erdlöchern verstecken. Hunderte werden jedes Jahr entführt, verkauft und bei Widerstand getötet. Das Bild der angsterfüllten Kinder quälte mich tagelang: Ich habe ja selbst zwei – inzwischen erwachsene. Ich musste darüber schreiben, trotz der Morddrohungen, die ich während der Recherchen für «Gebete für die Vermissten» (2014) erhielt.
Fühlen Sie sich noch bedroht?
Seit 2015 amtiere ich als erste Präsidentin des Autorenverbands PEN International und setze mich für inhaftierte Autorinnen und Autoren und die freie Meinungsäusserung ein. Daher werde ich immer wieder bedroht. Aber meine Empörung ist grösser als meine Angst.
Sind Ihre Romane eine Art «New Journalism»?
Nein, es ist eine Tradition des Romans, gesellschaftliche Übel auszustellen. Emile Zola schrieb über die Situation der Bergarbeiter, Victor Hugo über die der Armen. Romane können mehr, als man ihnen zutraut – und zeigen, bei mir jedenfalls, nur die Spitze des Eisbergs aus recherchiertem Material. Ich bin überzeugt: Romane können sozialen Wandel bewirken, manchmal gar ganz direkt wie Dickens' «Oliver Twist». Wenn der PEN heute für inhaftierte Dichter kämpfen muss, zeugt das auch von der Angst der Mächtigen vor dem Wort und sogar vor der Poesie.
Der PEN publizierte 2017 auch ein Manifest gegen die Unterdrückung der Frau.
Es wurde weit über den PEN hinaus verbreitet, so von Schottlands Premierministerin Nicola Sturgeon. Es ist eher ein Manifest des Schmerzes als der Wut: Schmerz über die 63 Millionen vermissten Inderinnen ebenso wie etwa darüber, dass selbst weisse privilegierte Autorinnen weniger oft übersetzt werden als Männer, weniger Preise erhalten; und nur, wenn ihre Protagonisten männlich sind. Wir sammeln gerade Daten dazu – und freuen uns über den Schub durch #MeToo.
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