Ein typischer Fall im Zuge der Recherche zu den Implant Files spielte sich folgendermassen ab: Ein hochsensibles Herzimplantat erhält eine Verkaufsbewilligung und kommt auch auf den Schweizer Markt – ohne Langzeitstudien, die den langfristigen Nutzen belegen. Die Universitäten, die Spezialisten, sogar die Presse feiern. Später wird es aber wegen Sicherheitsmängeln wieder zurückgerufen, es gibt Patienten, die neu operiert werden müssen.
Auf die Frage der Journalisten, was das denn soll, antwortet der Hersteller nicht etwa zerknirscht oder reumütig. Nein, er wirkt geradezu euphorisch: Das schnelle Bewilligungsverfahren, wie man es in Europa und in der Schweiz kenne, sei eben gerade eine «Stärke», schreibt er. So bekomme der Hersteller gleich «Real World Experience», also Erfahrungen von echten Menschen. «Diese Erfahrungen werden dann gleich in weitere Verbesserungen eingespeist.» Das Leiden der Menschen mit unausgereiften Implantaten wird so zum Kollateralschaden der Produktoptimierung.
Man stelle sich vor, ein Autohersteller brächte ein neues Modell ohne langwierige Sicherheitstests auf den Markt. Weil es noch Konstruktionsfehler hätte, provozierte es schwere Unfälle und würde zurückgerufen. Die Firma würde dann kaum verkünden: «Die schnelle Zulassung unseres Autos war super, so erhalten wir Rückmeldungen aus dem echten Verkehr und können bei Unfällen laufend unsere Konstruktionsprobleme beheben.»
In der Schweiz müssen Swissmedic und der Bundesrat Massnahmen erarbeiten, um die Produkte sicherer zu machen.
Wo dieses System hinführt, zeigt der Fall der Firma Ranier. Künstliche Bandscheiben dieser Firma wurden auf den Markt gebracht, abgesegnet unter anderem von zwei Schweizer Professoren, und mussten nach schwerstem Leiden der Patienten wieder herausoperiert werden. Einer der Professoren sagte in der TV-Sendung «10 vor 10» zum schnellen Marktzugang, es habe Druck der Investoren gegeben, und man müsse «etwas wagen, wenn man etwas gewinnen will». Andreas Rode, dem man die Scheibe einsetzte, hatte so starke Schmerzen, dass er nicht mehr aufstehen konnte. Am Schluss musste man die Scheibe vom Markt nehmen.
Wird heute ein Auto, ein Flugzeug oder ein Medikament zugelassen, können sich die Menschen in der Regel darauf verlassen, dass es funktioniert. Ausgerechnet bei Medizinprodukten ist das viel zu oft nicht der Fall – aber die Auswirkungen von Fehlern sind bei diesen Produkten mindestens so schlimm.
Es entsteht im Gegenteil ein Anreiz, immer günstigere Implantate zu verwenden.
Die Fälle, die Journalisten des International Consortium for Investigative Journalists in den letzten Monaten weltweit zusammengetragen haben, sind erschütternd.
Neue Regeln stossen auf Ablehnung
Was also ist zu tun? Einfache Antworten gibt es nicht. Nach einem Skandal um fehlerhafte Brustimplantate hat die EU bereits schärfere Vorschriften erlassen. Der Bundesrat schickt im Dezember eine Revision des Heilmittelgesetzes an die Räte, die das umsetzen soll. Aber die neuen Regeln stossen fast unisono auf Ablehnung.
Dank einem massiven Lobbying der Industrie werden weiterhin private Prüfstellen die Gütesiegel für Medizinprodukte verteilen. Doch die sind abhängig von Aufträgen der Hersteller und befinden sich deshalb in einem Interessenkonflikt.
Die jetzt geplante Regulierung verschlimmert die Position der Patienten noch zusätzlich, weil sie die Herstellung und Prüfung von Implantaten verteuert, ohne dass den Ärzten und Spitälern mehr Mittel gegeben werden, diese besseren Produkte dann auch zu kaufen.

Längere Testphasen machen Produkte zuverlässiger, aber auch teurer. Bei den Pharmafirmen kennt man diese Entwicklung. Neue Top-Medikamente kosten hier mitunter Hunderttausende Franken. Doch bei Implantaten sind höhere Kosten kaum möglich, denn hier sind die Preise gedeckelt. Denn Ärzte und Spitäler erhalten für eine Operation nur eine Fallpauschale, also einen fixen Betrag. Damit müssen nicht nur das Krankenhaus und die Löhne bezahlt werden, sondern auch die Implantate. Preissteigerungen bei besser getesteten Implantaten können damit nicht an Patienten oder Krankenkassen weitergegeben werden. Es entsteht im Gegenteil ein Anreiz, immer günstigere Implantate zu verwenden.
Dieser Anreiz ist falsch, denn es sind ja gerade defekte und schlechte Implantate, die in der Folge exorbitante Kosten verursachen. Ein System mit besser getesteten Produkten könnte unter dem Strich sogar günstiger sein.
Es wird nicht einfach sein, aus diesem Teufelskreis herauszukommen. Klar ist: Die Schweiz und die EU müssen jetzt handeln. In der Schweiz müssen Swissmedic und der Bundesrat Massnahmen erarbeiten, wie die Produkte sicherer werden können. Unnötiges Leiden muss vermieden werden.
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Die Patienten werden zu Versuchskaninchen
Die Implant Files zeigen, wie schlecht getestete Implantate auf den Markt gelangen. Hochwertige Produkte würden sogar Kosten senken.