Die Kunst der Koordination
Wer im Rollstuhl Tennis spielt, bewegt sich am Rand der Randsportarten. Am Wochenende fand in Burgdorf das Swiss Masters statt. Mit dabei: die 49 Jahre alte Bernerin Isabel Gianinazzi.

Am Anfang war ein Sturz. Brad Parks, 18 Jahre alt, äusserst talentiert, die Karriere als Ski-Freestyle-Profi vor Augen, sprang 1976 bei einem Wettkampf in Utah über die Schanze. Er verlor die Kontrolle, landete rückwärts auf der eisigen Oberfläche, erlitt eine Querschnittlähmung.
Der fatale Unfall war für Parks Ende und Beginn zugleich: Die Laufbahn im Ski-Freestyle war passé, dafür sollte er später in einer anderen Sportart dominieren und 1992 gar Olympiasieger werden.
Während der Rehabilitation lernte der Amerikaner den Rollstuhlsportler Jeff Minnenbraker kennen. Das Duo fing an, mit Tennis als Therapiemassnahme zu experimentieren. Mit speziell angepassten Rollstühlen sowie dem signifikanten Regelunterschied, dass der Ball zweimal aufspringen darf, stellten die Athleten ihre neue Sportart an der US-Westküste in einer Serie von Exhibitions vor.
Rollstuhltennis gewann an Popularität, erfasste später Europa, wurde 1992 zur paralympischen Disziplin und ist seit nunmehr 10 Jahren als eigener Wettbewerb in die vier Grand-Slam-Turniere integriert.
Djokovics Training
Trotzdem: Rollstuhltennis ist ein Randsport oder sogar: ein Sport am Rand der Randsportarten – zumindest in der Schweiz, wo die Zahl der Aktiven knapp dreistellig sein dürfte. Aber Rollstuhltennis ist mehr als bloss der bemitleidenswerte Bruder des stolzen Tennissports. Die Anforderungen an die Athleten unterscheiden sich stark.
Novak Djokovic weiss Bescheid. Vor einem Jahr trainierte der zwölffache Grand-Slam-Sieger vor dem Australian Open mit Dylan Alcott, dem Olympiasieger im Rollstuhltennis. Djokovic spielte ebenfalls im Rollstuhl, blieb chancenlos, sprach vom «härtesten Training, das ich je absolviert habe».
Den Rollstuhl an die richtige Stelle zu manövrieren, ist wesentlich anspruchsvoller, als den Körper mit Schritten zu steuern. Für Fortbewegung und Schlagausführung können ausschliesslich die Arme eingesetzt werden. Die Hauptschwierigkeit liegt in der Koordination der reduzierten Mittel. Das Racket bleibt dabei immer in der Hand. Die tiefe Anzahl der Aktiven dürfte mit der Komplexität der Sportart zusammenhängen.
«Als ich zum ersten Mal spielte, war das eine Katastrophe», sagt Isabel Gianinazzi. Soeben hat die 49 Jahre alte Bernerin aus Stettlen ihre erste Partie am Swiss Masters in Burgdorf verloren. Es handelt sich um ein Einladungsturnier zum Jahresende mit den bestklassierten Schweizer Spielerinnen und Spielern. Gianinazzi ist die einzige Vertreterin aus dem Kanton Bern und die älteste Teilnehmerin. Aber erst ihr Werdegang macht sie zur Exotin.
Gianinazzis Geschichte
Gianinazzi kommt mit anderem Namen und nur einem Bein zur Welt. Sie wächst in einem Kinderheim in Kolumbien auf, wird mit 7 Jahren von einer Tessiner Familie adoptiert. «Zu jedem Kind gehörte ein Dossier mit der Beschreibung der Behinderung. Mein Dossier wurde ausgewählt – das war wie ein Lottosechser», sagt Gianinazzi und lacht. Sie tut das oft im Gespräch, wirkt lebensfroh. «Ich musste früh damit leben, dass ich nur ein Bein habe. Für mich ist das nichts Spezielles – ich fühle mich nicht als Behinderte.»
Mit knapp 20 Jahren zieht es Gianinazzi vom Tessin nach Bern; sie möchte Deutsch lernen. Aus der Stippvisite wird die neue Heimat. Vor rund 6 Jahren kommt sie mit Rollstuhltennis in Kontakt. Heute sagt sie: «Ich wünschte mir, ich hätte früher angefangen.»
Gianinazzi ist mittlerweile die Nummer 7 im nationalen Ranking. Sie misst sich häufig mit Gegnerinnen, die halb so alt sind. Ihre erste Gegnerin in Burgdorf etwa, Angela Grosswiler, ist 29 Jahre jünger. Gar erst 17 Jahre alt ist das helvetische Aushängeschild Nalani Buob. Die Weltnummer 2 bei den Juniorinnen ist in Burgdorf verletzungshalber aber nicht dabei.
Punkto Beweglichkeit ist Gianinazzi weniger stark eingeschränkt als querschnittgelähmte Gegnerinnen. Dafür macht ihr die Balance zu schaffen, weil sie in der rechten Körperhälfte über mehr Kraft und Kontrolle verfügt. Die Bernerin aus Stettlen verfügt zwar über ein internationales Ranking (178), ist aber weit davon entfernt, die Sportart professionell zu betreiben, wie dies vielen Athleten in den Top 100 möglich ist.
Gianinazzi arbeitet als Verkäuferin, trainiert mindestens zweimal pro Woche in Burgdorf und nutzt die Ferien dafür, Turniere zu bestreiten. Mit Fotos wirbt Gianinazzi in ihrem Umfeld für die Sportart. Die Passion wird selten erwidert, das Interesse halte sich in Grenzen, sagt sie. Ihr Lachen vermag eine gewisse Enttäuschung nicht zu kaschieren. Nur allzu gerne würde die Coop-Verkäuferin den Leuten aufzeigen, welche Leistungen sie trotz Behinderung erbringen kann.
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