Der endlose Streit um die richtige Geburt
Seit Jahren wird vor «unnötigen» Kaiserschnitten gewarnt. Gefährlich sind sie heute nicht mehr. Aber immer noch teurer als natürliche Geburten. Ausgerechnet die Türkei zeigt, wohin diese Debatte führt.

Manche Alarmmeldungen verändern sich über zehn Jahre nicht. «In vielen Spitälern kommt fast jedes dritte Kind per Kaiserschnitt zur Welt – häufig auf Wunsch der Frau», meldete der «Puls-Tipp» 2001. «Jede dritte Geburt ist ein Kaiserschnitt», schrieb die Neue Luzerner Zeitung 2005. Wortgleich, «Jede dritte Geburt ist ein Kaiserschnitt», titelte Schweizer Fernsehen Online 2010. Und am vergangenen Sonntag meldete die Zeitung «Sonntag»: «Jedes dritte Kind kommt inzwischen per Kaiserschnitt zur Welt.»
Vor zehn Jahren musste bei dieser Feststellung noch leicht aufgerundet, respektive – wie im «Puls-Tipp»-Artikel – auf selektiv angefragte Privatspitäler zurückgegriffen werden. Heute (genauer: 2011) kommen gemäss Bundesamt für Statistik landesweit tatsächlich genau 33,3 Prozent aller Babys per Kaiserschnitt zur Welt. Die Alarmmeldung hat sich endlich selbst eingeholt.
Die alte Warnung vor «unnötigen Kaiserschnitten»
Denn dass dieser Befund alarmistisch gemeint ist, zeigte der «Sonntag» bereits vor zwei Jahren, als er dezidiert titelte: «Jeder dritte Kaiserschnitt ist medizinisch nicht notwendig». Damals berief er sich auf die Nationale Ethikkommission. Vor zwei Tagen war die Quelle das Institut für Hebammenforschung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft, deren Leiterin Claudia König die Entwicklung als «besorgniserregend» bezeichnete.
Tatsächlich steigt die Zahl der Kaiserschnitte in der Schweiz an. 1998 stand ihre Rate noch bei 22,7 Prozent, 2011 bei 33,3 Prozent. Das ist aber keine Steigerung von 70 Prozent, wie der «Sonntag» befand, sondern von 46,7 Prozent. Das würde Claudia König allerdings kaum von ihrem Befund abbringen: «Die Hälfte der Kaiserschnittgeburten wäre vermeidbar», findet sie. Auch das ist keine neue Feststellung: «Über die Hälfte der Kaiserschnitte sind bei uns unnötig», schrieb ein Gynäkologe bereits 2008 per Leserbrief im «Tages-Anzeiger». Verkürzt lautet die Kritik schon immer: «Zu viele unnötige Kaiserschnitte» (zwei Titel in der «Aargauer Zeitung», 2002 und 2008).
Irgendwas scheinen die Frauen nicht mitzukriegen. Da trommeln Hebammenverbände und ein Teil der Gynäkologen seit Jahren mit den immer gleichen Worten gegen den Kaiserschnitt, und dennoch steigt seine Rate an. Nicht steil, aber stetig. Dabei liegen die Vor- und Nachteile von Spontangeburt und Kaiserschnitt hierzulande so nah beieinander, dass ihre Unterscheidung rein akademisch ist.
Die Risiken gleichen sich immer mehr an
Die Totgeburtenrate liegt derzeit bei 4 bis 5 von 1000 Geburten. Das bezieht allerdings bereits Schwangerschaften ab der 22. Woche mit ein. Die Sterblichkeit sinkt rapid bis zu termingerechten Geburten. Ohnehin werden die Zahlen je nach Gutdünken gegeneinander ausgespielt. Kaiserschnittgeburten lagen punkto Gefährlichkeit lang deutlich vorne – bis man begann, die Notfallkaiserschnitte bei Spontangeburten wegzurechnen. Zudem ist unbestritten, dass Kaiserschnitt-Geborene ein höheres Risiko für Atemkomplikationen haben. Das wird in neueren Studien gegen das Risiko zu langer Schwangerschaften aufgerechnet. Das Ergebnis ist meist ein Patt. Dasselbe gilt für die Sterblichkeit der Mutter – gefährliche Notfall-Kaiserschnitte ausgenommen.
Die Risiken gleichen sich aus, dafür werden nun die Kosten bemüht. Kaiserschnitt-Geburten sind teurer als natürliche Geburten. Hebammenforscherin König ortet hier im «Sonntag» ein «massives Sparpotenzial» von 20 Millionen Franken. Auch dieser Gedanke ist nicht neu: Bereits 2008 forderte der Hebammenverband in der «Aargauer Zeitung» Behörden und Krankenkassen auf, «zu intervenieren». Krankenkassen und vor allem Gesundheitspolitiker der SVP haben dafür seit jeher ein offenes Ohr. «Die Krankenkassen müssen schärfer kontrollieren, in welchem Fall ein Kaiserschnitt wirklich nötig ist», fand Nationalrat Toni Bortoluzzi 2005 im «SonntagsBlick».
20 Millionen klingt nach viel. Nicht mehr ganz so beeindruckend ist die Zahl allerdings gegenüber den 62,5 Milliarden Franken Gesamtkosten des Gesundheitssystems (2011). Davon wären die angeblich unnötigen Kaiserschnitte gerade noch ein 3125-stel. Massives Einsparungspotential? Ähnliche oder grössere Potenziale finden sich zuhauf. Ein willkürliches Beispiel aus der teuren Welt des Schweizer Medikamentenwesens: Seit das Bundesamt für Gesundheit 2011 das Augenmedikament Lucentis auf die Spezialitätenliste gesetzt hat, wird kaum mehr das gleichwertige aber billigere Avastin verwendet. Einsparpotential: 500 Millionen Franken.
«Verweichlichte Frauen»
Doch wenn das Einsparpotential in Wahrheit lächerlich ist, warum dann die stets wiederkehrende Debatte? Toni Bortoluzzi sagte es vor sieben Jahren so: «Die Frauen sind verweichlicht.» Das fand man damals arg zugespitzt, aber im Grunde brachte der SVP-Politiker auf den Punkt, was implizit mitschwingt, wenn von «Trend» die Rede ist, von «Lifestyle-Kaiserschnitt» und davon, dass Frauen die Schnittgeburt wählen aus Furcht vor kosmetischen oder sexuellen Einschränkungen nach einer vaginalen Geburt.
Gestern verdächtigte Hebammenforscherin König in der «Limmattaler Zeitung» noch jemand anderen: die Ärzte, die Frauen zum Kaiserschnitt drängten. Folgt man Königs Vermutungen konsequent, muss das ziemlich oft so sein. Sie behauptet einerseits, dass gemäss Studien nur zwei Prozent der Frauen einen Kaiserschnitt aus freien Stücken wählen. Wenn aber andererseits laut König die Hälfte aller Kaiserschnitte «unnötig» sind, werden also 48 Prozent davon den Frauen bloss eingeredet.
«Dieser stete Vorwurf grenzt beinahe an Rufmord», ärgert sich Nadine Künzi, Gynäkologin und Belegärztin am Lindenhofspital Bern. «Ich empfehle meinen Patientinnen einen Kaiserschnitt aus medizinischen Gründen.» Gehört «Verweichlichung» dazu? «Die Angst vor Risiken und Schmerzen bei einer natürlichen Geburt wird von den Patientinnen als Grund geäussert», bestätigt Künzi. «In einer solchen Situation versuche ich im Gespräch zu eruieren, warum die Frau Angst hat. Wenn sie nach gründlicher Aufklärung noch immer den Wunsch nach einem Kaiserschnitt hat, wird er ihr ermöglicht.»
Die Türkei zieht die Konsequenzen
Doch die hehren Absichten werden den Gynäkologen oft nicht abgenommen. Kaiserschnittgeburten seien schliesslich «Big Business», sagt Claudia König. Nadine Künzi entgegnet: «Es stimmt, an einem geplanten Kaiserschnitt verdiene ich als Gynäkologin leicht mehr, weil es sich um eine Operation handelt. Allerdings reden wir da über wenige Hundert Franken. Zudem bin ich dann auch für das OP-Risiko verantwortlich.» Auch natürliche Geburten könne man einleiten, fügt Künzi an. «Das kann dann allerdings zwei bis drei Tage dauern, bis die Wehen einsetzen. In dieser Zeit werden die Frauen betreut von Hebammen, und die arbeiten auch nicht gratis.»
«Hebammen-Business»? Davon findet sich im Katalog der wiederkehrenden Kaiserschnittwarnungen wenig. Aber die Debatte muss ja nicht ewig so weitergehen. Diesen Sommer zeigte die Türkei, wie man darunter einen Schlussstrich zieht. Der islamistische Regierungschef Recep Erdogan sieht Abtreibung, Samenbanken und Kaiserschnitt als Teil einer Verschwörung der Frauen, ihren Pflichten nicht mehr nachzukommen. Denn eine Frau, die einen Kaiserschnitt hatte, könne bekanntlich kein Kind mehr bekommen, weil – so sein Verdacht – der Bauch aufplatze. Erdogans erste Massnahme um die Geburtenrate des Landes wieder zu steigern: Kaiserschnitte dürfen nur noch «mit medizinischer Indikation» durchgeführt werden. Ein völliges Verbot ist in Arbeit.
Na bitte. Mit «unnötigen» Kaiserschnitten ist es am Bosporus also erst mal vorbei.
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