
Kirschblütlerinnen, umstrittene Therapiemethoden, Verschwörungserzählungen und zu häufige Zwangsmassnahmen: Das Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) wurde in diesem Jahr regelrecht durchgeschüttelt. Dass die Probleme an die Öffentlichkeit gelangten, ist sehr zu begrüssen. Denn psychiatrische Kliniken sind längst keine Orte mehr, an denen Menschen einfach wegsperrt werden und es niemanden interessiert, was mit ihnen geschieht.
Die Gesellschaft ist zunehmend sensibilisiert für das Thema, und die Stigmatisierung weicht – wenn auch langsam – einer «Es kann jeden treffen»-Mentalität. Entsprechend wäre es auch wichtig, dass sich die Kliniken selbst öffnen und Transparenz über die Vorgänge im Innern herstellen. Umso verstörender sind die Details, die erst jetzt durch den externen Untersuchungsbericht bekannt werden. Was auf den beiden Akutstationen in Münsingen über Jahre abgelaufen ist – und von der Führung offenbar hingenommen wurde –, lässt sich nur als Horror bezeichnen. Tagtäglich kämpften die Teams mit Extremsituationen, denen sie nicht gewachsen waren.
Will man den Vorkommnissen etwas Gutes abgewinnen, so kann man sagen, dass sie wenigstens einiges in Gang gesetzt haben. Das PZM hat – wenn auch erst auf öffentlichen Druck hin – auf die Probleme reagiert und organisatorische und personelle Massnahmen getroffen. Nun ist es wichtig, dass auch noch jene Expertenvorschläge umgesetzt werden, die bisher nicht auf dem Tapet lagen.
Zu meinen, dass dadurch alles gut wird, wäre allerdings verfehlt. Denn das Hauptproblem in der Psychiatrie bleibt bestehen: Der wachsenden Anzahl psychisch Erkrankter steht eine immer kleinere Schar von Spezialistinnen und Betreuungspersonal gegenüber. Hier sind sowohl die Kliniken selbst als auch die Politik gefragt. Erstere müssen möglichst gute und flexible Arbeitsbedingungen schaffen, um weitere Abgänge zu verhindern. Wie gross in diesem Bereich der Nachholbedarf ist, zeigt sich ebenfalls in Münsingen. Der Kanton wiederum sollte dringend in die Nachwuchsausbildung investieren.
Denn auch wenn wir heute offener über psychische Krankheiten sprechen als noch vor zehn Jahren: Suizidgefährdete Jugendliche müssen teilweise drei Monate auf einen Behandlungsplatz warten. Man stelle sich vor, dies würde mit einem Krebspatienten geschehen. Solange wir ein solches Ungleichgewicht tolerieren, sind wir als moderne Gesellschaft noch lange nicht dort, wo wir sein sollten.
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Kommentar zu umstrittenen Therapien – Das Hauptproblem in der Psychiatrie ist ungelöst
Das Psychiatriezentrum Münsingen muss Zwangsmassnahmen reduzieren. Das allein reicht allerdings nicht.