«Dark Tourism» – Sensationsgier oder Bildungshunger?
Auschwitz, Fukushima, Guantánamo oder die Killing Fields in Kambodscha: Warum uns Katastrophenorte anziehen.
Man nennt die Besichtigung von Orten, die im Zusammenhang mit Tod und Zerstörung bekannt sind, «Dark Tourism» – also dunkler Tourismus oder Gruseltourismus. Klassische Ziele sind Schlachtfelder, vor allem jene des Ersten und Zweiten Weltkriegs, Nazi-Vernichtungslager wie Auschwitz und Birkenau, von Atombomben oder Atomkatastrophen zerstörte Orte wie Hiroshima, Tschernobyl oder Fukushima oder der Ground Zero in New York, wo 3000 Menschen einem Terroranschlag zum Opfer fielen.
Diese Art des Reisens ist umstritten: Kritiker sprechen von Sensationsgier und der Suche nach dem Adrenalinkick. Andere hingegen führen die Erweiterung des Horizonts oder ein besseres Bewusstsein für die Geschichte an.
Auch Professor Urs Wagenseil von der Hochschule Luzern vertritt gegenüber dem Branchenportal Travelnews die zweite Haltung: «Das ist nicht wie bei einem Unfall auf der Autobahn, wo man vielleicht noch Verletzte oder Tote sieht. Diese Touren sind so gestaltet, dass die Geschichte erlebt werden kann, und zwar mit dem Ziel, daraus zu lernen, damit sie sich nicht wiederholt.»
«Jeder Teilnehmer ist mit sich selber und der Tragödie beschäftigt.»
Wagenseil kennt zwar keine Reisebüros, welche «solche Trips vermarkten, das sind eher Anbieter vor Ort, die lokale Touren durchführen». Er hat selber mehrere solche Orte besucht, und ihm ist aufgefallen, dass jeweils eine betretene Ruhe herrsche: «Jeder Teilnehmer ist mit sich selber und der Tragödie beschäftigt und geht in sich. Danach muss man das Erlebte erst einmal verarbeiten.»
Der Tourismusdozent spricht daher lieber von bildendem Tourismus und von Mahnmalen als von «Dark Tourism». Wer den Tunnel in Paris besuche, wo Prinzessin Diana tödlich verunfallte, wolle «nicht den Unfall an und für sich sehen, sondern vor allem der Person gedenken», meint Wagenseil.
Zu den beliebtesten Zielen der «Dark Tourism»-Fans gehören:
Schlachtfelder von Verdun, Frankreich
Die Kleinstadt im Nordosten Frankreichs am Ufer der Maas steht als Synonym für die unermesslichen Gräuel des Erstens Weltkriegs, als auf beiden Seiten der Front Hunderttausende junger Männer in den Schützengräben verreckten, vergast, von Flammenwerfern verbrannt oder von Kugeln und Granaten zerfetzt wurden. Die Schlachtfelder von Verdun sind von Soldatenfriedhöfen, Museen und Gedenkstätten geprägt. Im Beinhaus von Douaumont beispielsweise finden sich die Überreste von mehr als 130'000 nicht identifizierten Soldaten. Vor allem in besonderen Gedenkjahren wie 2018, hundert Jahre nach Kriegsende, werden Verdun und andere Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs immer noch von zahllosen Touristen besucht.
Auschwitz-Birkenau, Krakau, Polen
Im grössten Konzentrationslager (Auschwitz) und Vernichtungslager (Birkenau) der Nationalsozialisten wurden rund 1,5 Millionen Menschen ermordet. Auschwitz war der zentrale Ort für Hitlers «Endlösung der Judenfrage». Etwa eine Million der Getöteten waren Juden; aber auch Polen, Roma, sowjetische Kriegsgefangene sowie Tschechen und Belarussen zählten zu den Opfern. Heute kann man die Orte des Grauens besichtigen und sieht dabei zum Beispiel die Eisenbahnrampe, wo die nach Birkenau transportierten Menschen ausstiegen, sowie die Überreste von Gaskammern, Häftlingsbaracken und Stacheldrahtzäunen.
Friedensdenkmal von Hiroshima, Japan
Die japanische Stadt Hiroshima wurde am 6. August 1945 um Viertel nach acht Uhr durch eine Atombombe, abgeworfen aus dem US-Bomber Enola Gay, zerstört. 90'000 Menschen starben sofort, weitere 90'000 bis 160'000 an den Spätfolgen. Heute erinnert ein Friedensdenkmal, auch Atombombenkuppel genannt, an den ersten Einsatz der Bombe. Beim Gebäude, das völlig ausbrannte, dessen Mauern jedoch teilweise stehen blieben und dessen Kuppel sich als Stahlskelett vom Himmel abzeichnet, handelt es sich um die 1915 fertiggestellte Ausstellungshalle der Präfektur Hiroshima. Sie ist vom Friedenspark umgeben, in dem sich auch das Friedensmuseum befindet. 1996 wurde die Gedenkstätte von der Unesco gegen den Willen der USA und der Volksrepublik China ins Verzeichnis des Weltkulturerbes aufgenommen.
Killing Fields, Kambodscha
Unter der vierjährigen Schreckensherrschaft der Roten Khmer wurde zwischen 1975 und 1979 rund ein Fünftel (1,7 bis 2,2 Millionen) der kambodschanischen Bevölkerung brutal ermordet. Die maoistischen Steinzeitkommunisten unter Pol Pot wollten die «Bourgeoisie auslöschen», und als «Bourgeois» galten nicht nur Wissenschaftler, Lehrer, Ärzte und Intellektuelle; oft reichte es, eine Brille zu tragen, lesen zu können oder eine Fremdsprache zu sprechen. Echte und angebliche Oppositionelle, deren Ehegatten und Kinder wurden zu Zehntausenden umgebracht. Viele der Hingerichteten kamen aus dem Gefängnis Tuol-Sleng (S-21) in Phnom Penh, das als Folter- und Verhörzentrum diente.
Das einstige Gymnasium ist heute ein Museum. Die Killing Fields umfassen über 300 Stätten. Verschiedene Anbieter organisieren Touren, die Einblick in dieses dunkle Kapitel Kambodschas gewähren.
Atomkraftwerk Tschernobyl, Ukraine
Am 26. April 1986 kam es zur Explosion des Reaktors Nummer 4 im Kernkraftwerk Tschernobyl, 100 km von der ukrainischen Hauptstadt Kiew entfernt. Tausende Mitarbeiter des Kraftwerkes kamen ums Leben. Die 43'000 Einwohner der Stadt Prypjat neben dem AKW ahnten nichts von der Katastrophe. Am 27. April gingen sie ihrem Alltag nach – bei einer 600'000-mal höheren Strahlenbelastung als sonst. Erst am Nachmittag wurden sie informiert, dass sie die Stadt innert zwei Stunden verlassen müssten.
Prypjat ist jetzt eine Geisterstadt und noch für Jahrhunderte unbewohnbar. Verschiedene Veranstalter bieten Touren in das Sperrgebiet an. Mit dabei ist immer ein Geigerzähler, der die Radioaktivität misst.
Ground Zero, New York, USA
In der Sprache der Militärs bezeichnet Ground Zero («Bodennullpunkt») die Stelle an der Erdoberfläche, die sich direkt unter dem Explosionsort einer Bombe befindet. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 mit rund 3000 Toten steht der Begriff auch für das zerstörte World Trade Center in New York.
Die Anschläge waren vier koordinierte Entführungen von Flugzeugen, die danach in wichtige Gebäude gelenkt werden sollten. Sie wurden vom islamischen Terrornetzwerk al-Qaida unter Osama Bin Laden geplant und von 19 Mitgliedern verübt, unter ihnen 15 Saudis. Die Terroristen entführten in Vierer- und Fünfergruppen vier Verkehrsflugzeuge, lenkten zwei davon in die Türme des World Trade Center und eines in das Pentagon in Arlington bei Washington. Das vierte Flugzeug sollte wahrscheinlich ein Regierungsgebäude in Washington treffen, wurde aber nach Kämpfen mit Passagieren in Pennsylvania zum Absturz gebracht.
US-Gefangenenlager Guantánamo, Kuba
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und der darauffolgenden US-amerikanischen Invasion Afghanistans wurde ab Januar 2002 der US-Stützpunkt in der kubanischen Bucht von Guantánamo um ein Internierungslager für «ungesetzliche Kombattanten» erweitert. Damit wollte die Regierung von Präsident George W. Bush die USA vor Terroristen schützen und geheimdienstliche Erkenntnisse gewinnen. Die Rechtslage der Gefangenen, die Haftbedingungen, Verhör- und Foltermethoden stiessen auf heftige Kritik.
Präsident Barack Obama kündigte während seiner Amtszeit die Schliessung des Camps an, doch es befinden sich von den einst fast 800 noch immer einige Dutzend Häftlinge dort. Kuba-Touristen können den Ort Caimanera besuchen, der an den US-Stützpunkt angrenzt. Dort gibt es ein kleines Museum. Doch wieso können die Amerikaner überhaupt einen Stützpunkt auf der kommunistisch regierten Insel betreiben? 1903 schloss die Verfassunggebende Versammlung Kubas einen 99-jährigen Pachtvertrag mit den USA ab. Später wurde dieser auf unbestimmte Zeit verlängert.
Atomkraftwerk Fukushima, Japan
Am 11. März 2011 erschütterte ein schweres Erdbeben die Nordostküste Japans und löste einen Tsunami aus. 18'000 Menschen kamen ums Leben, ganze Städte wurden ausgelöscht. Im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi (Fukushima I) fiel der Strom aus. Dabei kam es zu einer Kernschmelze, einem Super-GAU. Etwa 170'000 Menschen mussten evakuiert werden. Rund 20 Kilometer um das Atomkraftwerk herum ist bis heute Sperrgebiet. Für Touristen werden Touren in die Stadt Namie angeboten, acht Kilometer vom Unglücksreaktor entfernt. Auch Schiffstouren können gebucht werden, bei denen man bis 1,5 Kilometer an das Atomkraftwerk herankommt.
Travelcontent/Artur K. Vogel
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