Zwang zu VideoüberwachungBreiter Widerstand gegen die «Lex Reitschule»
Der Kanton Bern will Gemeinden zwingen können, Hotspots mit Kameras zu überwachen. Das ist umstritten und könnte ein Fall für die Gerichte werden.

Erhält die Kantonspolizei Bern mehr Kompetenzen, beschränkt sich der Widerstand in der Regel auf die linken Parteien. In der Vernehmlassung zum teilrevidierten Polizeigesetz, die am 6. Januar endete, reicht die Kritik jedoch weit in die Mitte hinein. Selbst die SVP muckt auf.
Konkret geht es um jene Bestimmung, wonach die kantonale Sicherheitsdirektion an öffentlichen Orten mit «erhöhter Gefahrenlage» gegen den Willen der Gemeinde eine Videoüberwachung anordnen kann. Vorausgesetzt, die Gemeinde bleibt trotz «entsprechender Empfehlung» untätig. Die Kosten für die aufgezwungene Videoüberwachung müsste danach die Gemeinde berappen.
Reitschule im Visier?
SP, die Grünen, GLP und EVP lehnen das Ansinnen dezidiert ab. Es sei ein Angriff auf die in der Kantonsverfassung geschützte Gemeindeautonomie. Die SVP stört sich primär daran, dass der Videozwang nicht etwa vom Gesamtregierungsrat beschlossen werden soll, sondern allein von Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP).
«Damit besteht die Gefahr einer willkürlichen und politisch motivierten Anordnung von Videoüberwachungen.»
Ebenso lehnen die Städte Bern, Thun und Biel die Zwangsbestimmung ab. Der Widerstand beschränkt sich jedoch nicht auf die Städte. Deutliche Kritik gibt es auch vom Gemeindeverband. «Demokratiepolitisch wäre eine solche Regelung höchst problematisch», schreibt dieser in seiner Vernehmlassungsantwort. Das Konzept sei ausserdem zu wenig «ausgereift», es fehle an sachlichen Kriterien. «Damit besteht die Gefahr einer willkürlichen und politisch motivierten Anordnung von Videoüberwachungen», so das Fazit.
Diesen Verdacht hegte Biels Stadtpräsident Erich Fehr (SP) bereits letzten Herbst, als er gegenüber dieser Zeitung sagte, es handle sich dabei um einen «Angriff auf links-grün regierte Städte». Andere Stadtberner Politikerinnen und Politiker gehen noch weiter, wenn sie hinter vorgehaltener Hand finden, der Passus ziele einzig auf die Reitschule ab. Obwohl das autonome Kulturzentrum in der Mitteilung der Stadt nicht erwähnt wird, so dürften solche Überlegungen durchaus eine Rolle gespielt haben.
Die These einer «Lex Reitschule» hat letzte Woche Regierungsrat Philippe Müller persönlich befeuert. In einem Beitrag auf Twitter bringt er die autonome Kulturstätte als möglichen Hotspot für Videoüberwachung ins Spiel. Der Grund: Anfang Jahr wurde beim Skatepark vor der Reitschule eine schwer verletzte Person gefunden.
Dass Müller bei der erstbesten Gelegenheit die Reitschule ins Spiel bringt, überrascht Edith Siegenthaler nicht. Das bestätige die verbreitete These, dass es bei dem Gesetzesartikel unter anderem um die Reitschule gegangen sei, sagt die SP-Grossrätin und Vizepräsidentin der Sicherheitskommission.
Auf Anfrage rudert Philippe Müller zurück. Es wäre falsch, schon jetzt konkrete Beispiele zu nennen. «Ob und wo ein solcher neuralgischer Ort mit erhöhter Gefahrenlage besteht, ist im Einzelfall nach Inkrafttreten der Gesetzesanpassung nach sachlichen Kriterien zu beurteilen», heisst es nun plötzlich. In seiner schriftlichen Antwort betont er mehrfach, dass er als Sicherheitsdirektor bloss einen vom Grossen Rat überwiesenen Vorstoss 1:1 umsetze. Eingereicht hatte die Motion zum Videozwang Francesco Rappa (Die Mitte).

Müller stört sich auch daran, dass bei der Debatte eine zentrale Frage nicht wirklich diskutiert werde. Nämlich jene, ob das Aufklären und Verhindern von Gewalttaten und Sexualdelikten nicht «einen vergleichsweise schwachen Eingriff» wie das Aufstellen einer Kamera rechtfertige? Zumal die Videoaufnahmen ja nur dann ausgewertet würden, wenn eine Straftat erfolgt sei.
Nause hat resigniert
Vom heutigen Regierungsrat weiss man, dass er schon als Stadtberner Parlamentarier ein Verfechter von Videoüberwachung im Raum Schützenmatte/Reitschule war. Auch der städtische Sicherheitsdirektor Reto Nause (Die Mitte) hat nie ein Geheimnis aus seiner Haltung gemacht. Gleichzeitig hat er sich schon vor Jahren damit abgefunden, dass er mit diesem Vorhaben im rot-grün dominierten Bern wohl nie durchdringen wird. Nause spricht von «fundamentalistischem Eifer», mit dem Videoüberwachung in Bern bekämpft werde.
Dass sein Begehren durch Müllers Sicherheitsdirektion erzwungen werden könnte, geht aber auch ihm zu weit. Ausserdem seien Fragen offen: «Was passiert zum Beispiel, wenn der Stadtrat das Budget zur Videoüberwachung nicht genehmigt?» Denn laut Reglement müssen Investitionen von über 300’000 Franken vom Stadtparlament abgesegnet werden. Dass dieser Betrag bei der Schützenmatte locker überschritten werden würde, ist für Nause klar. «Es bräuchte wohl mehrere Kameras, die zudem vor Vandalismus geschützt sind.»

Als Referenz zieht er seinen bislang einzigen Versuch heran, in der Stadt den öffentlichen Raum zu überwachen. Vor zehn Jahren war das. Es ging um den «Fanwalk» zwischen Bahnhof Wankdorf und dem Gästesektor des Wankdorfstadions. Die geplanten 13 Kameras hätten 770’000 Franken verschlungen, hinzu wären jährliche Betriebskosten von 140’000 Franken gekommen. Das Vorhaben wurde schliesslich als zu teuer verworfen.
Studien bezweifeln Nutzen
Der Zwang zur Videoüberwachung könnte dereinst gar ein Fall für die Justiz werden. Falls das Gesetz im Grossen Rat tatsächlich durchkommen sollte, kann sich SP-Grossrätin Edith Siegenthaler gut vorstellen, dass ihre Partei oder sonst eine Organisation den Eingriff in die Gemeindeautonomie von einem Gericht prüfen lassen würde.
Tatsächlich sei es möglich, den umstrittenen Passus in Form einer sogenannten «abstrakten Normenkontrolle» vor Gericht zu bringen, meint auf Anfrage Rechtsanwalt und SP-Stadtrat Dominic Nellen. Dazu legitimiert wären laut ihm aber wohl primär Gemeinden, da deren Rechte betroffen seien. Ob die Stadt Bern diesen Weg allenfalls einschlagen würde, dazu will sich Sicherheitsdirektor Nause noch nicht festlegen.
«Bei Gewaltdelikten, wo die Taten oftmals im Affekt geschehen, bringt eine solche Überwachung keinerlei Nutzen.»
Was Rechtsanwalt Nellen am Gesetzesartikel weiter kritisiert: Nirgends werde auf Studien verwiesen, die den Nutzen von Videoüberwachung bei der Gewaltprävention nachweisen würden. Das überrasche ihn nicht, denn einen solchen Nutzen gebe es nicht, das würden zahlreiche Studien zeigen.
Er verweist auf die Stadt Luzern, die Ende der Nullerjahre testweise den Bahnhofplatz mit Kameras ausgestattet hatte. Die Bilanz nach zwei Jahren war ernüchternd, ein präventiver Effekt nicht feststellbar. Kurioserweise wurden in dem Zeitraum gar mehr Delikte registriert. 2015 stellte auch die Stadt Thun ein Pilotprojekt aus ähnlichen Gründen vorzeitig ein.
Doch warum ist das so? Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat in einer Studie dazu vor vier Jahren Folgendes festgehalten: Videoüberwachung habe höchstens bei Diebstählen – etwa in Zügen oder Bussen – eine eindämmende Wirkung, da ein Raub meist im Voraus geplant werde. «Bei Gewaltdelikten, wo die Taten oftmals im Affekt geschehen, bringt eine solche Überwachung keinerlei Nutzen.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.