Bomber über dem Oberland
hat er aus besonderer
Wieder wecken die Sirenen Werner Fivian. Fliegeralarm! Der Neunjährige richtet sich im Bett auf. Eigentlich müsste das bedrohliche Geheul ihn und die Bewohner weiter Teile des Oberlands in Angst versetzen. Wer fliegt an? Der Feind? Kommt nun der Angriff? 1940 und 1941 ist die Anspannung besonders gross. Zeitweise heulen die Sirenen fast jede Nacht. Doch genau deswegen gewöhnen sich die Menschen auch daran. Alliierte Bomberverbände benutzen während des Weltkriegs das Oberland als Flugkorridor, um im Schutz der Nacht von England über die Alpen nach Italien zu gelangen. Dort werfen sie ihre Bombenlast auf Deutschlands Verbündete ab und fliegen weiter, um im besetzten Sizilien oder in Nordafrika zu landen. Später treten sie den Rückweg in umgekehrter Richtung an, mit neuen Bomben beladen. «Gehen wir!» Nach dem Sirenenalarm hebt ein unheimliches Brummen über Thun an. Nach dem Dröhnen zu urteilen, sind Dutzende Bomber im Anflug. Werner Fivian ist hellwach. Angst verspürt er nicht. Vielmehr eine kindlich-freudige Aufregung. Flüsternd ruft er zu seinem Zwillingsbruder Fritz hinüber: «Gehen wir!» Natürlich sind alle fünf Geschwister, die sich ein Zimmer im Dachstock des Bauernhofs teilen, wach. Die beiden neunjährigen Buben hüpfen aus dem Bett, schlüpfen in ihre Kleider und huschen auf leisen Sohlen die Treppen hinunter, gefolgt vom ein Jahr jüngeren Bruder Ernst. Die Schwestern bleiben oben. Was die drei Jungen machen, ist streng verboten: Sie gehen ins Freie! Kein Licht ist zu sehen. Die ganze Region ist verdunkelt. Alle Fenster mussten mit schwarzen Tüchern abgedeckt sein. Vater ist weg – im Aktivdienst. Aber ob Mutter die Schritte auf der Treppe gehört hat? Egal Das, was hier gleich geschehen wird, schlägt Werner, Fritz und Ernst in ihren Bann. Das tiefe Surren der anfliegenden Bombenflugzeuge schwillt furchteinflössend an. Auf dem ausgedehnten Armeegelände der Thuner Allmend tasten die Leuchtfinger von mehreren riesigen Scheinwerfern in den Nachthimmel. Etwa 100 Meter entfernt, hinter den Obstbäumen der «Hostet» auf Fivians Land stationiert, sucht eine solche Lampe ebenfalls den Luftraum ab. Daneben in Position: ein Geschütz der Schweizer Fliegerabwehr. Die drei Jungen schleichen näher. «Schaut, jetzt sind die Flieger über uns!», raunt Werner seinen Brüdern zu. «Dort!» Treffen die Schweizer? Die Scheinwerfer haben einen viermotorigen Bomber erfasst. Er fliegt sehr hoch. Oft fliegen die alliierten Bomberverbände in rund 10000 Meter Höhe, ähnlich wie heute die Passagierjets. Ein ohrenbetäubender Knall. Erschrocken zucken die drei Brüder zusammen und ducken sich instinktiv. Gleich darauf lachen sie sich an. Sie kennen das ja schon. «Jetzt gehts los!» Die Salven weiterer Kanonen zerreissen die Luft. Die Schweizer Luftabwehr schiesst auf die Staffeln, welche das neutrale Land überfliegen. Doch die Geschosse erreichen die hochfliegenden Maschinen, nie und nimmer. Das wissen die Kanoniere. Sie wollen auch gar nicht treffen. Sie nehmen die Alliierten als eine Art Befreier wahr. Trotzdem wird in Thun und Allmendingen aus allen Rohren geschossen. Die Fivian-Brüder schleichen sich an die Stellung auf ihrem Land heran. Nahe genug, um im Widerschein des Suchscheinwerfers den Gesichtsausdruck der Soldaten zu erkennen: eine Mischung aus Konzentration und – Enthusiasmus. Manchmal grinst der eine oder andere sogar. Offenbar macht der Einsatz den Angehörigen der hier stationierten welschen Batterie auch Spass. Bald darauf ist der Spuk vorbei. Die Bomber sind Richtung Süden weitergeflogen. Allmählich wird es wieder still, und die Jungen huschen zurück ins Bett. Im Cockpit Auch tagsüber ist eine Menge militärischer Betrieb auf dem Hofe Fivian an der Allmendingenstrasse. Wegen seiner Nähe zum Flugplatz auf der Allmend sind bisweilen bis zu drei Morane-Jagdflugzeuge vor dem Bauernhof geparkt. Sie rollen über einen gemähten Grasstreifen von der Piste bis zum Hof. Die Flugzeuge werden von Soldaten streng bewacht. Doch die drei Fivian-Buben können sich auf dem eigenen Land fast überall ungehindert bewegen. Werner Fivian muss heute schmunzeln, wenn er zurückdenkt. «Ein ganz besonderes Erlebnis war es, als ich einmal in der Flugzeugkanzel sitzen durfte.» Der Pilot, ein Westschweizer, welcher auf dem Hof untergebracht war, liess Werner und seine Brüder in der Folge mehrmals ins Cockpit seiner Morane steigen. «Ein freundlicher Mann», erinnert sich der heute 79-jährige Werner Fivian. «Wir verstanden uns gut, obschon wir kein Französisch verstanden und er kaum Deutsch. Wir bewunderten diesen Piloten.» Zerschossene Flugzeuge Die Bewunderung steigerte sich noch, als der Flieger eines Tages wieder beim Hof anrollte. Zerschossen! Sein Flugzeug war an der Landesgrenze im Luftkampf mit einem deutschen Jäger unter Beschuss geraten. «Besonders die Flugzeugnase wies zahlreiche Einschüsse auf», sagt Fivian. «Staunend befühlte ich die Einschusslöcher. Trotz der Schäden hatte unser Pilot seine Maschine sicher in Thun landen können. Und es war Glück, dass keine Kugeln ihn getroffen hatten.» Die Fivians waren stolz, einen solchen Mann «als Freund» zu haben. Doch das Privileg hatte seinen Preis. Fast die gesamte Kriegszeit über hatte die Luftwaffe Teile des Gutes an der Allmendingenstrasse beschlagnahmt. Auch das Zimmer, in welchem der welsche Pilot wohnte. «Ohne uns dafür zu entschädigen», betont Werner Fivian. «Doch das akzeptierte man damals ganz selbstverständlich. Schliesslich beschützten sie uns vor dem Feind, der da draussen lauerte. Wir aber standen auf der richtigen Seite. Davon waren wir überzeugt.» Hans Peter Roth >
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