
In breitbeiniger Arroganz stapft Uncle Sam wieder einmal durch seinen lateinamerikanischen Hinterhof. Er heuchelt hehre Absichten, wo es ihm doch nur um die Kontrolle über Rohstoffe geht. Er faselt von Demokratie, während sich einer seiner gekauften Lakaien an die Macht putscht.
So oder ähnlich beurteilt ein Teil der Linken, was gegenwärtig in Venezuela geschieht. Jean Ziegler, Franco Cavalli sowie der ehemalige Juso-Chef und heutige SP-Nationalrat Fabian Molina in der Schweiz, Exponenten der deutschen Partei Die Linke und der italienischen Fünfsternbewegung, der spanische Anführer der Partei Podemos, Pablo Iglesias, der amerikanische Intellektuelle Noam Chomsky und jene mehr als 70 Professoren, die dessen offenen Brief unterzeichnet haben: Sie alle sind überzeugt, dass die Ernennung des venezolanischen Oppositionellen Juan Guaidó zum Interimspräsidenten dem altbekannten historischen Muster des amerikanischen Imperialismus folgt.
Es ist unbestreitbar, dass die Regierung Trump in ihrer üblichen hemdsärmligen Haudrauf-Attitüde solche Vorwürfe begünstigt. Nach einem Treffen mit Donald Trump schrieb Marco Rubio, republikanischer Senator von Florida und kompromissloser Gegner des kubanischen Regimes, am 22. Januar auf Twitter: «Morgen wird in Venezuela für die Demokratie und die verfassungsmässige Ordnung ein sehr guter Tag sein.»
Offensichtlich war die Ernennung Guaidós zum Interimspräsidenten, die am 23. Januar erfolgte, mit Washington abgesprochen. Der 71-jährige Diplomat Elliott Abrams, den Trump zum Sonderbeauftragten für Venezuela ernannt hat, ist wegen Verwicklungen in die Iran-Contra-Affäre vorbestraft, und er hat einst ein von der Armee begangenes Massaker an Zivilisten in El Salvador verharmlost. Trumps nationaler Sicherheitsberater John Bolton bedroht Maduro mit dem Straflager in Guantánamo, während sich Trump sogar eine militärische Invasion des südamerikanischen Landes als Option offenhält.
Diese und andere Beispiele zeugen von mangelnder historischer Sensibilität gegenüber der unheilvollen Rolle, welche die USA in Lateinamerika oft gespielt haben. Sie ändern aber nichts daran, dass der übliche antiimperialistische Argumentationsdreisprung der Linken im Falle Venezuelas mit einem Beinbruch endet.
Argument eins: Es geht ums Erdöl
Schon unter Hugo Chávez waren die USA der Hauptabnehmer venezolanischen Erdöls und damit die wichtigste finanzielle Stütze der sogenannten Bolivarianischen Revolution. Mehr als ein Drittel der venezolanischen Erdölexporte gehen in die USA, wo Citgo, eine Tochtergesellschaft des staatlichen venezolanischen Erdölkonzerns PDVSA, drei Raffinerien betreibt. Die Amerikaner haben es also nicht nötig, gewaltsam die Kontrolle über die venezolanischen Erdölvorkommen zu erringen, weil sie selbst unter ihren antiimperialistischen Erzfeinden Chávez und Maduro ausgiebiger beliefert wurden als jedes andere Land. Ausserdem ist die Abhängigkeit der USA von Erdölimporten in jüngster Zeit stark gesunken, weil das Land dank neuer Technologien (Fracking) selber viel mehr fördert.
Argument zwei: Es ist wie damals bei Salvador Allendes Sturz in Chile
Das Verlogene an der Interventionspolitik der USA in Lateinamerika bestand früher darin, dass die Supermacht im Kampf gegen kommunistische oder angeblich kommunistische Regimes Gewaltherrscher oder rechtsextreme Paramilitärs unterstützte, die sich um Demokratie und Menschenrechte foutierten: Augusto Pinochet in Chile, die Contras in Nicaragua, die Folterdiktatur in Argentinien. Bisher gibt es nicht das geringste Anzeichen dafür, dass auch Guaidó den Irrweg des rechten Autoritarismus einschlagen könnte. Wie er sich verhalten wird, falls er tatsächlich die Macht erringt, wird man sehen. Und vielleicht wird man dann das Urteil über ihn revidieren müssen. Aber dem 35-Jährigen gewissermassen präventiv diktatorische Ambitionen zu unterstellen, bedeutet, ein billiges und niederträchtiges historisches Zerrbild zu projizieren. Es sind auch nicht bloss die USA, die Guaidó als Interimspräsidenten anerkennen, sondern weltweit rund sechzig weitere Länder. Seit gestern gehören auch mehrere EU-Staaten dazu. So berechtigt es ist, sie zu Umsicht zu mahnen, so deutlich muss man sagen: Sie sind im Recht.
Argument drei: Die in jüngerer Zeit erfolgten US-Attacken auf Diktatoren im Nahen Osten haben die Lage noch verschlimmert
Das trifft zu, doch anders als in vielen Ländern des Nahen Ostens gibt es in Venezuela keine ethnisch, religiös oder territorial motivierten Konflikte. Es geht auch nicht darum, von aussen ein politisches System aufzuzwingen, das ein bedeutender Teil der Einheimischen ablehnt. In Venezuela gibt es auf der einen Seite einen Diktator, der sein Land in unbeschreibliches Elend gestürzt hat und sich mitsamt einer korrupten kriminellen Clique an die Macht klammert. Und auf der anderen Seite eine verzweifelte Bevölkerung, die bei den letzten halbwegs freien Wahlen, nämlich den Parlamentswahlen im Dezember 2015, mit deutlicher Mehrheit die Opposition unterstützte. Laut einer Umfrage wünschen sich heute 80 Prozent der Venezolaner Maduros Abgang, was jeder demokratisch gesinnte Mensch respektieren sollte. Die Gefahr, dass Venezuela nach dem überfälligen Machtwechsel zerfällt und als südamerikanisches Libyen endet, ist äusserst gering.
Das bedeutet nicht, dass die venezolanische Krise nicht noch blutiger werden könnte, als sie es ohnehin schon ist – etwa, falls sich ein Teil des Militärs Guaidó anschliesst und es zu einem bewaffneten Konflikt mit regimetreuen Einheiten kommt. Die Lage in Venezuela ist verworren und unvorhersehbar. Die radikale Linke mit ihren abgedroschenen pseudohistorischen Vergleichen wird dieser Komplexität nicht annähernd gerecht.
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