«Atemberaubend arrogant»
Vatikan Kardinal George Pell muss wegen Kindesmissbrauchs sechs Jahre ins Gefängnis.

Siebzig Minuten waren vorbei, live übertragen am Fernsehen, als Richter Peter Kidd am County Court von Victoria in Australien diesen letzten Satz sagte: «Wenn Kardinal Pell jetzt bitte hinausgeführt werden könnte.» George Pell war regungslos geblieben, die ganze Zeit, dann verneigte er sich kurz vor dem Richter und wurde durch einen Seitenausgang weggebracht. Vor dem Gericht warteten Gegner und Fürsprecher des Kirchenmannes. Auf der Zeichnung eines Protestplakats sah man Pell mit Teufelshörnern.
Der 77-jährige Australier, als Schatzmeister des Vatikans bis vor kurzem die «Nummer 3» der katholischen Kirche, muss für sechs Jahre ins Gefängnis. 1996, als er Erzbischof von Melbourne war, soll er zwei Chorknaben, damals 13, in der Sakristei der Kathedrale sexuell missbraucht haben. Zu dem Strafmass kam das Gericht, nachdem Geschworene den Kardinal bereits im vergangenen Dezember verurteilt hatten. Im Höchstfall wären fünfzig Jahre Haft möglich gewesen: je zehn für jeden Anklagepunkt. Doch Richter Kidd nahm unter anderem Rücksicht auf das Alter und die vielen Gesundheitsprobleme des Mannes. Erst nach drei Jahren und acht Monaten könnte Pell frühzeitig freikommen, wenn es dann bei diesem Urteil aus erster Instanz bleibt.
Die Kinder weinten
Während der Verkündigung fand der Richter deutliche Worte dafür, was er vom Verhalten des Geistlichen bei der Tat hält. Kidd nannte es «atemberaubend arrogant», «gefühllos» und «brutal». Die Kinder hätten geweint, als der Erzbischof, in deren Pflegepflicht sie standen, sie missbraucht habe. Doch Pell habe einfach weitergemacht und sie aufgefordert zu schweigen.
Als Pell hinausgeführt wurde, wusste er noch nicht, in welchem Gefängnis er seine Haft absitzen muss. Unklar war zunächst auch, ob seine Anwälte versuchen würden, ihren Mandanten gegen Kaution freizubekommen – bis zur ersten Anhörung im Berufungsverfahren. Die soll am 5. Juni stattfinden. Pell beteuert nämlich seit Beginn des Verfahrens, dass er unschuldig sei.
An diese Unschuld klammert sich auch der Vatikan. Es ist dies der bisher schwierigste Moment in der Missbrauchskrise – und im nunmehr sechs Jahre alten Pontifikat von Franziskus. Pell ist der höchste Prälat der katholischen Kirche, der je wegen eines solchen Vergehens ins Gefängnis musste. Er war Mitglied des Kardinalrats, des K9, mit dem Franziskus die Kirche reformieren wollte. Dem gross gewachsenen und etwas rustikalen Australier fiel die Aufgabe zu, die vatikanischen Finanzen neu zu ordnen. Aufräumen sollte er. Pell schien dafür die Idealbesetzung zu sein.
Als bekannt wurde, dass in der Heimat gegen ihn wegen Missbrauchs an Kindern ermittelt werde, beurlaubte Franziskus seinen Finanzminister. Damit der sich verteidigen könne, hiess es. Das war im Juni 2017. Fast zwei Jahre lang lag das Amt auf Eis – es wartete gewissermassen auf Pells Rückkehr. Im vergangenen Dezember dann, als die Geschworenen den Kardinal schuldig gesprochen hatten, entfernte der Papst Pell aus dem K9. Das Amt als Finanzchef verlor er definitiv aber erst drei Monate später, nachdem die Berichtssperre der australischen Justiz aufgehoben wurde – mit einem Tweet des vatikanischen Sprechers, was sehr unüblich ist.
Am Heiligen Stuhl finden noch immer viele, der Fall Pell sei eine fein orchestrierte Attacke gegen das Pontifikat Bergoglios und dessen Reformen. Auch der Papst selbst hält diese These offenbar für plausibel. Bei seiner Abschlussrede nach dem Missbrauchsgipfel im Vatikan im Februar warf er den Medien vor, sie liessen sich bei der Berichterstattung zu Missbrauchsfällen instrumentalisieren. Die Kirche aber müsse sich über «alle ideologischen Polemiken und journalistischen Kalküle» erheben, sagte Franziskus.
Unterdessen eröffnete der Vatikan nun seinerseits eine Ermittlung gegen Pell, die dann in einem Prozess enden könnte. Nach Kirchenrecht. Zuständig ist die Glaubenskongregation. Solange dieser interne Prozess nicht abgeschlossen ist und solange auch das zivile Verfahren in Australien nicht alle Instanzen durchlaufen hat, wird sich der Vatikan wohl fest an die Unschuldsvermutung halten. Pell bleibt also Kardinal, auch im Gefängnis und bis auf weiteres.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch