Amerikas liebster Zahlenhuber
Bill Clinton rechnete den Demokraten gestern minutiös vor, warum Barack Obama eine zweite Amtszeit verdient. Fast eine Stunde lang Zahlen und Statistiken – und das Publikum jubelte.
Am Ende war das Verdikt klar: Das kann kein anderer. Ein Politiker, der weit über die Primetime hinaus redet, der den Teleprompter-Text ignoriert, der 50 Minuten über Zahlen, Gesetze und Regierungsprogramme doziert – und nicht nur die Parteitagsdelegierten hängen ihm an den Lippen, auch die sonst so gnadenlosen US-Sender schalten nicht weg. Ein Blogger scherzte: «Die rufen hier bald nicht mehr ‹Noch mal vier Jahre!›, sondern ‹Noch mal vier Stunden!›»
Bill Clinton hielt gestern Nacht eine weitere seiner legendären Clinton-Reden. Bis weit nach 23 Uhr Ortszeit in Charlotte, North Carolina. Und manche Politreporter erinnerten sich wieder einmal daran, dass die längste Parlamentsrede, die er in seiner Amtszeit je gehalten hatte, ihm damals auch den grössten Sprung in den Umfragen beschert hatte.
Clinton hat gut lachen
Er kann das. Und er weiss es. Es macht ihm sichtlich Spass, den spitzen Finger zu heben und mitten in einen Applaus hinein zu sagen: «Nein, wartet, es wird noch besser.» Oder: «Wenn ihr Zeit habt, müsst ihr mir jetzt zuhören, es wird nämlich kompliziert.» Oder: «Okay, gehen wir das mal Punkt für Punkt durch.»
Clinton hat gut lachen. Der Mann ist im Reinen mit sich, mit seiner Geschichte, mit seinen Landsleuten. Der Ex-Präsident ist heute gemäss Umfragen die beliebteste politische Figur Amerikas. 69 Prozent finden ihn laut neuesten Zahlen von Gallup sympathisch. Das ist mehr als bei Michelle Obama. Das ist auf jeden Fall höher als bei Barack Obama. Es erstaunte niemanden, als vor drei Monaten bekannt wurde, dass der Präsident seinen Vor-Vorgänger persönlich gebeten hatte, für ihn die Nominierungsrede zu halten.
Er sezierte die Gegenargumente
Selbstverständlich war es aber auch nicht. Die beiden machten nie ein Hehl daraus, keine persönlichen Freunde zu sein. Keinen hatte der Vorwahlkampf von 2008 mehr verbittert als Bill Clinton, der einfach nicht damit umgehen konnte, dass seine jahrelang als sichere Favoritin geltende Frau Hillary langsam gegen diesen Jüngling aus Chicago unterging. Seine Ausfälle damals entfremdeten ihn für eine Zeit von einer seiner treuesten Anhängerschaft: den Schwarzen.
Das hat er korrigiert. Er hielt 2008 schon eine Rede am Parteitag und gestand Obama zu: «Er ist bereit.» Er riet danach seiner Frau Hillary, den Job als Aussenministerin anzunehmen. Und er nahm nun gestern die Argumente gegen Barack Obama auseinander, wie das bisher noch kein Demokrat geschafft hat.
Demokraten schufen doppelt so viele Jobs
In Sachen Wirtschaftswachstum: «Seit 1960 sassen die Republikaner 28 Jahre im Weissen Haus und die Demokraten 24. In diesen 52 Jahren schuf unsere Wirtschaft 66 Millionen neue Jobs in der Privatwirtschaft. Wie ist die Bilanz? Republikaner 24 Millionen, Demokraten 42 Millionen!»
In Sachen Gesundheitsreform: «Sie sei ein Desaster, sagen die anderen. Dabei haben schon jetzt Personen und Unternehmen mehr als eine Milliarde Dollar an Prämiengelder zurückerhalten, weil das Gesetz verlangt, dass 80 bis 85 Prozent der Prämien auch tatsächlich für Gesundheit ausgegeben werden. Mehr als 3 Millionen junger Leute zwischen 19 und 25 sind zum ersten Mal versichert. In den letzten zwei Jahren lag das Wachstum der Gesundheitskosten unter 4 Prozent – zum ersten Mal in 50 Jahren!»
«Ich sagte immer nur ein Wort: Arithmetik»
Oder in Sachen Defizit: «Man fragt mich oft, welche neuen Ideen wir damals in den 90er-Jahren hatten, um das Budget auszugleichen. Ich sagte immer nur ein Wort: Arithmetik. Barack Obama schlägt ein Sparprogramm vor, das über zehn Jahre für jeden Dollar Mehreinnahmen zweieinhalb Dollar sparen will. Romney will gleich mal anfangen mit 5 Billionen Dollar neuer Steuersenkungen, vor allem für die Reichen.»
Und so ging es weiter. Clinton ging die gesamte Munition der Republikaner durch. Die falschen Vorwürfe, Obama wolle das Arbeitsgebot in der Fürsorge wieder abschaffen. Oder er wolle die Altersvorsorge kürzen. Oder er habe die Wirtschaft nicht schnell genug auf Vordermann gebracht. Alles wurde abgehakt. Clinton ratterte Zahlen und Statistiken, Hochrechnungen und Bilanzen herunter. Und sein Publikum jubelte vor Vergnügen. Auch das Ende war eine Bilanz: «Wer eine Winner-takes-all-Gesellschaft will, der sollte Mitt Romney wählen. Wer eine wachsende Mittelschicht will, der stimmt für Barack Obama.»
Befürchtungen waren unnötig
Und dann hatte er geschlossen. Seine Aufgabe war getan. Clinton, «The Big Dog» der Demokraten, hatte seine Rede als Einziger dem Obama-Team nicht zur Autorisierung vorgelegt. Doch alle Befürchtungen im Weisse Haus, der Alte könnte von der Wahlkampflinie abweichen, waren unnötig. Im Gegenteil: Gut möglich, dass Clinton der Obama-Kampagne gestern die entscheidende Vorlage lieferte für einen erfolgreichen Endspurt.
Barack Obama selbst zeigte sich jedenfalls zufrieden. Kaum war die Rede zu Ende, kam er hinter Clinton auf die Bühne, um dankbar seinen Parteifreund zu umarmen. Die Verneigung davor war ziemlich sicher ernst gemeint.
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