Klettersteig La Resgia im EngadinAdrenalinkick am Abgrund
Sie versprechen Nervenkitzel, sportlichen Spass und spektakuläre Sicht: Eigentlich kann an einem Klettersteig nichts schiefgehen. Aber unterschätzen sollte man den gesicherten Kletterweg im Fels nicht.

Der Klettersteig La Resgia im Oberengadin wird im Internet wahlweise als abwechslungsreicher Einstieg für Anfänger angepriesen oder als sportliche Herausforderung, bei der sich routinierte Klettersteigfreaks wohlfühlen. Wir sind eigentlich sportlich, doch das Drahtseil in der Felswand ist Neuland.
Nun befinden wir uns beim Einstieg, gut eine Viertelstunde zu Fuss von Pontresina entfernt: Bettina, Alessandra und die Autorin. Harziger Duft steigt vom Waldboden auf, und in der Ferne leuchten die frisch eingeschneiten Gipfel rund um den Piz Palü, die grossartige Kulisse dieser Klettertour.
Dann: hoppla! Vor uns hängt ein Kletterer in der Wand.
Mit unserem Bergführer würde man auf jeden Gipfel gehen: Marco Salis führte beim Kanton Graubünden die Spezialeinheit der Alpinpolizei, war stets Berg- und Flugretter, zudem 26 Jahre lang Rettungschef beim SAC Bernina. Wenn er in seinem Bündner Dialekt spricht, senkt sich sogleich der Pulsschlag. Marco war 2009 an der Einrichtung des Klettersteigs beteiligt, jüngst hat er geprüft, ob der Steig für die Saison geöffnet werden kann: keine gelockerten Felsblöcke, keine gerissenen oder beschädigten Drahtseile, alles bestens.
Marco zeigt, wie wir uns sichern. Und er erklärt das Prinzip: Die Karabiner an den elastischen Bandschlingen und das eingerollte Band sorgen dafür, dass ein allfälliger Sturz dynamisch abgefedert wird – ein harter Schlag würde den Rücken verletzen.
Füsse auf Eisenklammern und Felskanten
Alessandra klettert voran. Wie gelernt, hängt sie die Karabiner gegengleich am Drahtseil ein, stellt die Füsse sorgfältig auf die Eisenklammern, findet zwischendurch auch mal eine Felskante als Tritt. «Macht kleine Schritte, arbeitet mit den Beinen, nutzt die Arme nur für die Wahrung des Gleichgewichts», hatte Marco gesagt. Am Anfang noch zögerlich, bald schon flott geht das Umhängen der Karabiner an die Verankerungen im Fels.
Das Vertrauen wächst. Mal führt die Route senkrecht über Eisenklammern die Wand hoch, mal über Felsblöcke mit ausgeschlagenen Tritten, mal laufen wir nur auf die Reibung der Sohlen vertrauend eine Steinplatte hoch. Wir gewinnen rasch Höhe und gelangen zu einem schmalen Balkon.

Schwindelerregend ist der Blick ins Tal. «Den Abgrund bemerkt man gar nicht», sagt Alessandra, «die ganze Konzentration richtet sich auf den Fels.» Kühn trauen wir uns die Route über den Adlerhorst zu. Noch wissen wir nicht, was uns hinter dem nächsten Felsvorsprung erwartet.
Das Seil wackelt, Adrenalin schiesst durch den Körper.
Dann: hoppla! Vor uns hängt ein Kletterer in der Wand. Der Mann ist vier Meter in den Sicherungsgurt gestürzt und zunächst kopfüber gesichert geblieben. Wie entkommt man aus einer derartigen Lage? Der Mann hat keine Kraft mehr. So kann auch Marco mit der klassischen Rettungstechnik schlecht helfen. Bald hören wir das Knattern des Helikopters. Mit der Seilwinde fliegt die Rega den abgestürzten Kletterer aus der Wand. «Es ist schon gut, beim ersten Mal mit einem Bergführer unterwegs zu sein», sagt Alessandra nachdenklich. Marco beruhigt: Ein Unfall sei selten. Drei- oder viermal pro Saison komme so etwas vor. «Hauptsache, es ist nichts Schlimmes passiert.»

Erst die Seilbrücke, dann der Kamin
Nach dieser Einlage ist die Lust auf den Adlerhorst gedämpft. Viele Leute kehrten früher an dieser Stelle um, deshalb wurde 2018 eine Umgehung eingerichtet. Andererseits: Wie, wenn nicht mit dem Rettungschef an der Seite, will man das Abenteuer wagen? Also los. Erste Herausforderung: die Seilbrücke. Marco zeigt, wie man sich am oberen Drahtseil mit den Karabinern sichert, das mittlere Seil über die Schulter laufen lässt und auf dem untersten Seil vorsichtig einen Fuss vor den anderen setzt. Jetzt bloss nicht hinunterschauen.
Das Seil wackelt, Adrenalin schiesst durch den Körper. Schier endlos zieht sich die luftige Strecke. Der nachfolgende Aufstieg um die Kante in einen leicht überhängenden Kamin zehrt an den Armen. Ungemein beruhigend ist das Seil, mit dem Marco zusätzlich von oben sichert. Und dann: geschafft!
So also erklärt sich die unterschiedliche Einschätzung des Steigs: Die normale Route können sportliche Leute tatsächlich gut als Einstiegstour machen – die Variante über den Adlerhorst, mit Schwierigkeitsgrad K4 bewertet, kitzelt schon mehr an den Nerven. Der Rest des Wegs hoch zur Alp Languard bietet viel Abwechslung: eine kurze Kraxelei, eine Traverse, zwischendurch eine kurze, athletische Passage.

Der nahe Wasserfall rauscht in den Ohren, rosa Bergprimeln und auch mal ein Edelweiss leuchten in den Ritzen des sonnenwarmen Granits, das Panorama im Rücken weitet sich von der Diavolezza über den vergletscherten Kessel von Palü und Bernina bis hinüber ins Haupttal des Engadins. «Das war ein grosser Spass!», sind sich Bettina und Alessandra einig.
Auf der Terrasse der Alpbeiz treffen wir den verunfallten Kletterer. Unbekümmert will er sich gleich ein neues Klettersteigset besorgen und plant bereits die nächste Tour. Auch wir fassen ein nächstes Ziel ins Auge. Aber wir kennen nun auch die Gefahren.
Die Reise wurde von Pontresina Tourismus unterstützt.
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