8400 PS, 253 km/h – Hurrikan aus der Höllenmaschine
Was Florence tut, das kann «Wow» schon lange: Ganze Gebäude umpusten. Was hinter dem beeindruckenden Windgenerator in Florida steckt.
Es beginnt harmlos. Der Zierblumentopf vor dem Haus fällt um und rollt im aufkommenden Wind weg. Dann kippt der Holzkohlegrill um, wird hochgewirbelt und weggepustet. Es folgen Gartenstühle, Velos, ein Rasenmäher. Das kleine Holzhaus steht nun alleine im Sturm. Bebend. Zitternd. Wackelnd.
Ein Bildschirm zeigt die Windgeschwindigkeit an: 110 Meilen pro Stunde. 120. Dann 130. 136 Meilen pro Stunde. Jetzt geht alles blitzschnell. Der Wind reisst ruckartig das Flachdach nach oben, bricht in das ungeschützte Gebäude ein, hebt die Wände aus den Verankerungen, zerschmettert die Fenster. In weniger als zwei Sekunden ist das Häuschen zerstört. Seine Bestandteile liegen über mehrere Hundert Meter verteilt auf einer Wiese.
Der Simulator heisst «Wow»
«Katastrophales Design», sagt Walter Conklin, «das war nicht mal ein Hurrikan der höchsten Kategorie.» Der 46-jährige Ingenieur fährt im Kontrollzentrum die zwölf mannshohen gelben Windmaschinen per Mausklick am Computer herunter. Das ohrenbetäubende Röhren geht in ein tiefes Brummen über, verstummt schliesslich, die Ventilatoren drehen sich nur noch langsam.
«Das war das Vergnügen.» Er feixt. «Jetzt geht die Arbeit los.» Forscher schwärmen in Sicherheitskleidung auf das Trümmerfeld aus, inspizieren die zerfetzten Teile, vermessen Bruchstellen, verfolgen am Computer in Zeitlupenaufnahmen die Zerstörung und beginnen, Zigtausende Daten auszuwerten, die Sensoren auf den Bauteilen erhoben haben.
Auf dem Gelände des Hurricane Research Center in Miami pustet eine der grössten Windmaschinen der Welt zu Forschungszwecken Gebäude um. «Fast alle Besucher sagen das gleiche Wort, wenn sie unsere Versuchsanlage das erste Mal sehen», sagt Erik Salna. Das Wort, das er meint, ist: «Wow!» Genau danach haben die Forscher auch ihre Anlage benannt. «Es ist aber auch eine Abkürzung für Wall of Wind» – die Wand aus Wind.
Der 58-jährige Wissenschaftler ist Meteorologe und einer der Leiter des Institute of Extreme Events, des Instituts für Extremereignisse. Er nimmt seinen Schutzhelm ab: «Wir versuchen, besser zu verstehen, wie Hurrikans funktionieren und was wir tun müssen, um die gewaltigen Schäden und die Zahl der Todesopfer zu verringern.»

Jedes Jahr suchen Hurrikans zwischen Juni und November den Südosten der USA heim. Die Namen der Wirbelstürme stehen für Tod, Leid und Verwüstung: Andrew 1992, 65 Tote. Katrina im Jahr 2005 mit 81 Milliarden Dollar an Schäden der teuerste aller Stürme. Dann 2017 gleich drei Rekordstürme, Harvey, Irma und Maria. Knapp 350 Tote. Die meisten der Opfer sterben in kollabierenden Gebäuden oder durch umherfliegende Trümmerteile, die wie Geschosse wirken.
«Unser Eindruck ist, dass die Extremwetterereignisse häufiger werden», sagt Salna, «das heisst, dass unsere Arbeit mit jedem Jahr wichtiger wird.» Um Hurrikans zu simulieren, erzeugt das von Elektromotoren angetriebene 8400-PS-Gebläse der Wall of Wind Windgeschwindigkeiten von bis zu 253 Kilometern pro Stunde. Das entspricht der Kategorie 5, der höchsten Stufe der Hurrikans. Jeder Ventilator wiegt sieben Tonnen. «Wir haben ein Monster geschaffen», lächelt Salna, «ein gutes Monster, das genau das tut, was wir wollen.»
Am Boden vor den Ventilatoren montierte Metallteile brechen den Wind und erzeugen Turbulenzen – wie in der Realität. Die Hausattrappen stehen auf einem grossen Drehtisch, um die Angriffswinkel des Sturmes verändern zu können. Düsen blasen Wasser in den Wind, der resultierende peitschende «Regen» ist einer der Hauptschwerpunkte der aktuellen Arbeit der Forscher. «Dringt Wasser in die Häuser ein, ist der Schaden meist grösser als durch reine Windschäden», sagt Amal Elawady, eine der Forschungsleiterinnen.

Die 32-jährige Ägypterin Elawady und Salna gehen gemeinsam zum «Friedhof» des Testgeländes. Hier, am Rande der Anlage auf dem von der Sonne Floridas versengten Rasen, liegen Dutzende zerstörte «Strukturen»: Flachdächer, Ziegelteile, Bretterhaufen, die früher Hauswände waren, Fensterrahmen, zerborstene Solaranlagen. Aber letztlich sind es winzige Details, die den Unterschied zwischen Verwüstung und Unversehrtheit ausmachen.
«Unsere Erkenntnisse fliessen in die Bauvorschriften ein», sagt Elawady, «gehen Haustüren zum Beispiel nach aussen auf, statt nach innen, drückt der Wind sie weniger leicht ein. Ist die Dachkonstruktion nicht mit Nägeln auf dem Haus verankert, sondern mit Metallstreifen verstärkt und angeschraubt, hält das viel besser.» Jeder in den Schutz investierte Dollar spart Hausbesitzern fünf bis sechs Dollar bei der Schadensbehebung, haben Versicherungen ausgerechnet.
Vor einem Jahr, unmittelbar nach Irma, fuhr Elawady mit Kollegen auf die Inselkette der Florida Keys, die arg vom Sturm mitgenommen worden war. «Es war verrückt: Da standen Häuser in der Schneise der Verwüstung, die kaum Schäden aufwiesen.» Und direkt daneben nur Trümmerhaufen oder was vom Nachbarhaus übrig geblieben war. Schon das Abrunden der Dachkanten verbessert zum Beispiel die Aerodynamik des Gebäudes. Speziell designte Fensterläden schützen vor Glasbruch.

Unternehmen und Forschungsinstitute rennen den Betreibern der Wall of Wind die Bude ein, Hurricane proof-Design ist ein Milliardengeschäft – für Bauunternehmen, Baustoffhersteller und Versicherungen. «Wir haben ein Alleinstellungsmerkmal, denn in einem Windkanal kann man keinen Hurrikan imitieren», sagt Salna. Sie sind zu eng und lassen nur Versuche zu, die die Komplexität eines Wirbelsturms nicht abbilden.
Nach den Versuchen mit Wohnhäusern sollen auch andere Strukturen Härtetests unterworfen werden: Baukräne, Solarpanels, Ampeln, Stromleitungen. Derzeit experimentieren die Wissenschaftler mit Miniwindrädern, die – an Dachrändern montiert – den Wind brechen können und mit denen sich im Ernstfall nach Blackouts Energie gewinnen lassen könnte.
Aber die Pläne für Floridas grösstes Blasinstrument gehen noch viel weiter: «Vom Wind losgerissene fliegende Objekte sind mit die grösste Gefahr für Menschen», sagt Meteorologe Salna. Künftig wollen die Wind-Ingenieure Holzbretter, Dachziegel, Metallteile oder Getränkedosen auf die Testhäuser schiessen. «Auch bei gut verankerten Dächern und Wänden hat man nicht viel davon, wenn ein Ziegel das Fenster durchschlägt, der Wind eindringt und das Haus von innen zerlegt», sagt Salna. Dann stellt er sich vor einen der zwölf Riesenventilatoren und streicht übers gelbe Gehäuse. Es sieht fast aus wie ein Streicheln.
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